Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
belächelt und mit Unverständnis, bisweilen auch mit Misstrauen, beäugt worden. «Am Sonntag eilt der Deutsche zur Stadt hinaus», notierte der russische Schriftsteller Ilja Ehrenburg während seiner Deutschlandreise im Jahre 1929, «und seine Naturliebe ist wahrhaft unheimlich. Er krempelt die Hosen hoch und steigt in jede Pfütze hinein. Erblickt er ein paar Grashalme, so lässt er sich zärtlich auf die staubige Erde fallen. Zwischen Kies, Wegweisern, Plakaten und Bierwirtschaften sucht er hartnäckig nach imaginären Vergissmeinnicht.» Wie kann es zugehen, dass sich eine der führenden Industrienationen der Welt so hemmungslos dem Waldesrausch hingibt?, fragt sich heute so mancher. Ist einer Nation mit einer derartigen Neigung zum Irrationalen wirklich zu trauen? Einer Neigung, die sich gelegentlich auch bis in Hysterische steigern kann – man denke nur an die achtziger Jahre, in denen besorgte Umweltschützer, befeuert von den führenden Medien des Landes, lautstark den drohenden Untergang der Wälder beschworen. Das deutsche Wort «Waldsterben» ist im Französischen heimisch geworden, auch wenn von dem zugrunde liegenden Tatbestand heute kaum noch die Rede ist.
Nicht wenige Kritiker der deutschen Naturseligkeit haben dabei die deutsche Vergangenheit im Blick und verweisen auf die unheilvolle Verbindung des Naturgefühls mit dem Nationalen und Soldatischem. «Das Massensymbol der Deutschen war das Heer», heißt es bei Elias Canetti. «Aber das Heer war mehr als das Heer: es war der marschierende Wald. In keinem modernen Land der Welt ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland. Das Rigide und Parallele der aufrecht stehenden Bäume, ihre Dichte und ihre Zahl erfüllt das Herz des Deutschen mit tiefer und geheimnisvoller Freude. Er sucht den Wald, in dem seine Vorfahren gelebt haben, noch heute gern auf und fühlt sich eins mit den Bäumen.»
Hat also Strindbergs Wort vom Wald als «Urheimat der Barbarei» vielleicht doch seine Berechtigung? Stand der deutsche Wald als Vorbild für das Konstrukt der deutschen Volksgemeinschaft, aus der es alles Fremde heraus zuhalten galt? Stellten die Nationalsozialisten nicht neben die Parkbänke Schilder auf mit der Aufschrift «Juden sind in unseren deutschen Wäldern nicht erwünscht», und schmückte sich nicht der berüchtigte Hermann Göring gar mit dem Titel eines Reichsjägermeisters? In der Schorfheide errichtete jener Reichsjägermeister ein Jagdanwesen aus Kiefernstämmen, Schilfrohr und Findlingen. Göring nannte es «Carinhall», und in den Jahren, während das Deutsche Reich wuchs und sich nach und nach seine Nachbarn einverleibte, wuchs mit ihm auch Carinhall. In angebauten Hallen stellte Göring seine zahlreichen Jagdtrophäen aus, das Kopfende des Speisesaals schmückte ein riesiges Hirschgemälde. Aber auch Friseursalon, Schwitzbad, Zahnklinik, Kinosaal und ein Spielboden für Görings Modelleisenbahn fanden hier Platz.
Schon in Preußen blies man bekanntlich gerne zur Jagd, die Schorfheide gehörte bereits zu Kaiser Wilhelms Zeiten zu den bevorzugten Jagdgebieten. Im Jahr 1913 errechnete die Jagdzeitschrift Wild und Hund anlässlich des 25. Thron jubiläums, Kaiser Wilhelm II. habe bis dato 75.000 Tiere mit seiner Büchse erlegt. Harry Graf Kessler genoss das Privileg, am Hubertustag des Jahres 1895 an der kaiserlichen Jagdgesellschaft teilnehmen zu dürfen. Dabei bot sich dem Grafen kein besonders angenehmer Anblick, wie er in seinem Tagebuch festhielt: «Der Kaiser sieht im Jagdzivil unvorteilhaft aus; dick und unförmlich; er hält sich krumm, die abnorm breiten Hüften und das fast weiblich entwickelte Hinterteil fallen im Frack mehr auf als in Uniform. Das Gesicht ist gelb und müde, bis auf die kaltblitzenden grauen Augen.» In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts gingen in der Schorfheide dann der Vorsitzende des Staatsrats der DDR, Erich Honecker, und der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß gemeinsam ihrer Jagdleidenschaft nach.
Es wäre allerdings trügerisch, solchen Jagdeifer für eine spezifisch deutsche Passion zu halten. In fast allen Ländern der Welt schmückten sich Regenten mit den Insignien der Jagd, und manche tun es bis heute: Man denke da nur an den russischen Präsidenten Wladimir Putin, der sich dabei gerne martialisch, mit nacktem Oberkörper und in Tarnhose, präsentiert. Für pazifistisch Gesinnte mag es ein tröstlicher Gedanke sein, dass solches heutzutage von der deutschen
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