Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
das Leben gerettet (er heiratete sie dafür fünf Tage später). Die Berliner leisteten Folge und verhielten sich ruhig – obwohl sich der Stadtkommandant dann nach Westfalen absetzte, um in die Dienste Napoleons zu treten, und der preußische König mit dem Hof gen Königsberg zog.
Historiker auf der ganzen Welt haben sich darüber den Kopf zerbrochen, ob das Bedürfnis nach «Ruhe und Ordnung» in Deutschland über die Jahrhunderte hinweg stärker gewesen sei als anderswo – und wenn ja, warum. Manch einer wollte dafür die Verheerungen des Dreißigjährigen Kriegs verantwortlich machen, die sich im Unterbewusstsein der Nation festgesetzt hätten. Wer wissen will, wie barbarisch es damals zuging, muss nur einmal Grimmelshausens Simplicissimus lesen. Es gibt aber auf solche Fragen, die an die kollektive Psyche rühren, keine abschließenden Antworten.
Doch niemand wird bestreiten wollen, dass das Regime Hitlers im 20. Jahrhundert den verbreiteten Wunsch nach Ordnung und Sicherheit auf eine Weise pervertierte wie kein anderer zuvor in der Geschichte. Die Angst vor dem Chaos und die Sehnsucht nach dem starken Mann, nach einem, der im Land einmal «richtig aufräumt», spülte ihn an die Macht. Am 30. Januar 1933, als Hitlers Anhänger durch das Brandenburger Tor marschierten, schlug nicht nur die Stunde der Willkür und des Terrors, sondern auch die der Paragraphenreiter und Schreibtischtäter. Und wie viel Mühe gaben sie sich dabei, ihrer verbrecherischen Herrschaft durch «ordentliche» Gesetze den Anschein von Legitimität zu verleihen! Man schaue sich nur die Verfügungen gegen die deutschen Juden an, die Victor Klemperer am 2. Juni 1942 in Dresden in seinem Tagebuch festhielt:
«Neue Verordnungen in judaeos . Der Würger wird immer enger angezogen, die Zermürbung mit immer neuen Schikanen betrieben. Was ist in diesen letzten Jahren alles an Großem und Kleinem zusammengekommen! Und der kleine Nadelstich ist manchmal quälender als der Keulenschlag. Ich stelle einmal die Verordnungen zusammen: 1) Nach acht oder neun Uhr abends zu Hause sein. Kontrolle! 2) Aus dem eigenen Haus vertrieben. 3) Radioverbot, Telefonverbot. 4) Theater-, Kino-, Konzert-, Museumsverbot. 5) Verbot, Zeitschriften zu abonnieren oder zu kaufen. 6) Verbot zu fahren; (dreiphasig: a) Autobusse verboten, nur Vorderperron der Tram erlaubt, b) alles Fahren verboten, außer zur Arbeit, c) auch zur Arbeit zu Fuß, sofern man nicht 7 km entfernt wohnt oder krank ist (aber um ein Krankheitsattest wird schwer gekämpft). Natürlich auch Verbot der Autodroschke. 7) Verbot, ‹Mangelware› zu kaufen. 8) Verbot, Zigarren zu kaufen oder irgendwelche Rauchstoffe. 9) Verbot, Blumen zu kaufen. 10) Entziehung der Milch karte. 11) Verbot, zum Barbier zu gehen. 12) Jede Art Handwerker nur nach Antrag bei der Gemeinde bestellbar. 13) Zwangsablieferung von Schreibmaschinen, 14) von Pelzen und Wolldecken, 15) von Fahrrädern – zur Arbeit darf geradelt werden (Sonntagsausflug und Besuch zu Rad verboten), 16) von Liegestühlen, 17) von Hunden, Katzen, Vögeln. 18) Verbot, die Bannmeile Dresdens zu verlassen, 19) den Bahnhof zu betreten, 20) das Ministeriumsufer, die Parks zu betreten, 21) die Bürgerwiese und die Randstraßen des Großen Gartens (Park- und Lennéstraße, Karcherallee) zu benutzen. Diese letzte Verschärfung seit gestern erst. Auch das Betreten der Markthallen seit vorgestern verboten. 22) Seit dem 19. September der Judenstern. 23) Verbot, Vorräte an Esswaren im Hause zu haben. (Gestapo nimmt auch mit, was auf Marken gekauft ist.) 24) Verbot der Leihbibliotheken. 25) Durch den Stern sind uns alle Restaurants verschlossen … 26) Keine Kleiderkarte. 27) Keine Fischkarte. 28) Keine Sonderzuteilung wie Kaffee, Schokolade, Obst, Kondensmilch. 29) Die Sondersteuern. 30) Die ständig verengte Freigrenze. Meine zuerst 600, dann 320, jetzt 185 Mark. 31) Einkaufsbeschränkung auf eine Stunde (drei bis vier, Sonnabend zwölf bis eins). Ich glaube, diese 31 Punkte sind alles. Sie sind aber alle zusammen gar nichts gegen die ständige Gefahr der Haussuchung, der Misshandlung, des Gefängnisses, Konzentrationslagers und gewaltsamen Todes. –»
Auch über die Transporte in die Konzentrations- und Vernichtungslager und den «Verwaltungsmassenmord» führ ten die Schreibtischtäter ordentlich Buch. «Die Fesseln der gequälten Menschheit sind aus Kanzleipapier.» Als Franz Kafka diesen Satz niederschrieb, ahnte er nicht, wie rasch und auf wie
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