Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)

Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)

Titel: Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Asfa-Wossen Asserate
Vom Netzwerk:
bestrichen. Und doch befremdete es mich, als ich – es muss Mitte der achtziger Jahre gewesen sein – bei einem Spaziergang im Frankfurter Stadtwald plötzlich auf eine Gruppe von Frauen stieß, die einen großen Lindenbaum umrundeten. Mit ihren hin und her wirbelnden hennafarbenen Haaren und ihren wallenden lila Gewändern waren sie nur schwer voneinander zu unterscheiden. Während sie sich bei den Händen fassten und verzückt nach oben zur Baumkrone blickten, stießen sie im Chor rhythmisch «Omm»-Laute aus, sich allmählich vom Pianissimo zum Fortissimo steigernd. Es handele sich dabei um ein esoterisches Ritual, klärte mich später eine Bekannte auf: Aus der Umklammerung der Linde schöpften sie kreatürliche Kräfte.
    Ob die Frauen im Frankfurter Stadtwald wussten, in welche Tradition sie sich einreihten? «Wenn wir Reuter sehen unter den Linden halten», schrieb Martin Luther, ist es «ein Zeichen des Friedens, denn unter der Linde pflegen wir zu trinken, tanzen und fröhlich zu sein, nicht streiten noch ernsten, denn die Linde ist bei uns ein Friede- und Freudebaum.» Auf ihrem Osterspaziergang begegneten Faust und Wagner ausgelassenen Bauern: «Schon um die Linde war es voll,/Und alles tanzte schon wie toll./Juchhe! Juchhe! Juchheisa! Heisa! He!/So ging der Fiedelbogen.» Als «Friedebaum» wurde die Linde auch in Preußen verehrt. Die Bittschriftenlinde vor dem Arbeitszimmer Friedrichs II. am Stadtschloss war Potsdams berühmtester Baum. Hier fanden sich Tag für Tag zahlreiche Bittsteller ein, um den König ihre Gesuche zu übergeben. Die Bittschriftenlinde überlebte Friedrich den Großen und alle preußischen Könige nach ihm und das Königreich Preußen überhaupt. Erst im Januar 1949 wurde sie gefällt.
    Zum deutschesten aller deutschen Bäume aber wurde gleichwohl nicht die Linde, sondern die Eiche. Sie steht für majestätische Stärke, Treue und Durchhaltevermögen, und doch ist die erste historisch verbürgte Eiche just deshalb in die Geschichte eingegangen, weil sie gefällt wurde. Es handelt sich um die berühmte Donar-Eiche bei Fritzlar, die dem Gott Thor geweiht war. Bonifatius – der angelsächsische Priester Winfried und nachmalige Mainzer Bischof – ließ sie im Jahre 723 auf seiner Missionsreise fällen und ein christliches Bethaus daraus zimmern.
    Schenkt man den Forstwissenschaftlern und Naturhistorikern Glauben, gab es in Deutschland längst keine natürlichen Wälder mehr, als die deutschen Romantiker zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihre besondere Zuneigung zum Wald entdeckten und die Brüder Grimm ihre Märchen sammelten. Es handelte sich damals schon um Kulturlandschaften, von Forstinspektoren sorgsam geplant: Die romantische Natursehnsucht wurde von den Bewohnern der Städte erfunden. Auch der deutsche Gedanke des Umweltschutzes entstand nicht erst im 20. Jahrhundert. Im Rückblick prophetisch erscheinen die Zeilen, die Achim von Arnim im Jahre 1806 verfasste, im Nachwort zur Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn : «Oh mein Gott, wo sind die alten Bäume, unter denen wir noch gestern ruhten, die uralten Zeichen fester Grenzen, was ist damit geschehen, was geschieht? Fast vergessen sind sie schon unter dem Volke, schmerzlich stoßen wir uns an ihren Wurzeln. Ist der Scheitel hoher Berge nur einmal ganz abgeholzt, so treibt der Regen die Erde hinunter, es wächst da kein Holz wieder, dass Deutschland nicht so weit verwirtschaftet werde, sei unser Bemühen.»
    Ein halbes Jahrhundert später, 1854, schreibt der aus dem nassauischen Biebrich stammende Schriftsteller Wilhelm Heinrich Riehl – er gilt als ein Pionier des Naturschutzes: Der Gedanke, «jeden Flecken Erde von Menschenhänden umgewühlt zu sehen, hat für die Phantasie jedes natürlichen Menschen etwas grauenhaft Unheimliches; ganz besonders ist er aber dem deutschen Geiste zuwider». Von dort war es nur noch ein kleiner Schritt zur Gründung der ersten Wald-, Vogel- und Naturschutzvereine. «Waldheil!», rief man sich in den Waldvereinen traditionell zur Begrüßung zu. Die Geburtsstunde des deutschen Naturschutzes wird heute übrigens auf das Jahr 1836 datiert: Damals erwirkte der preußische König Friedrich Wilhelm III. den Ankauf des pittoresken Drachenfelsen im Siebengebirge, wodurch er dessen weiteren Abbau als Steinbruch für den Bau des Kölner Doms verhinderte.
    Von anderen Nationen ist der Hang der Deutschen zum Wald, die gefühlige Aufladung der Natur und die besondere Sorge um ihren Fortbestand

Weitere Kostenlose Bücher