Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
von Regelungen und Verordnungen ist dem deutschen Föderalismus zu verdanken. Ein jedes Bundesland pocht, wo immer es kann, auf seine Zuständigkeit – oft zum Leidwesen derer, für die die Grenzen von Bayern und Hessen, Sachsen und Brandenburg nicht die Grenzen der Welt bedeuten. Wer mit schulpflichtigen Kindern von einem Bundesland in ein anderes ziehen will, sieht sich im Nu in die Schützengräben einer ideologisch aufgeladenen Schulpolitik versetzt, in der ein jedes Land auf seinem eigenen allein seligmachenden Pfad voranmarschiert. Und wer zu den bedauernswerten Menschen gehört, die sich, allen wohlmeinenden Warnungen der Gesundheitsminister zum Trotz, hin und wieder eine Zigarette oder Pfeife gönnen, sollte sich, wenn er von einer deutschen Stadt in die andere reist, erst einmal gründlich informieren. Wer kann schon sagen, wo es einem in den Gaststätten und Lokalen noch erlaubt ist und wo man sich mit dem Anzünden einer Zigarette vielleicht schon strafbar macht? Ein jedes Bundesland verficht seine eigene, stets wohlbegründete Überzeugung, wie es dem Wohl seiner Bürger und Gäste am besten dienlich sein kann. Nur dass Helmut Schmidt überall, sogar im Fernsehen, rauchen darf, darüber besteht noch in ganz Deutschland Konsens.
Noch mulmiger kann es einem werden, wenn man den Blick nach Brüssel richtet. Im Vergleich zu der Regelwut und Bürokratie, die in den letzten Jahrzehnten die immer undurchschaubareren Institutionen der Europäischen Union entwickelt haben, nimmt sich der deutsche Staat geradezu schlank und rank aus. Zu trauriger Berühmtheit hat es die Verordnung mit der Nummer 1677/88 gebracht, aus der hervorgeht, dass eine Gurke der Handelsklasse «Extra» maximal eine Krümmung von zehn Millimetern auf zehn Zentimetern Länge aufweisen darf. Die «Gurkenverordnung» wurde inzwischen wieder abgeschafft, um die zulässigen Größen und Formen von Tomaten, Karotten, Äpfeln und Kondomen wird aber noch gerungen. Vor einigen Jahren hat die Europäische Kommission dann der Glühbirne den Krieg erklärt, der Feldzug steht kurz vor seinem erfolgreichen Abschluss. Man darf sicher sein, dass es den Beamten und Angestellten in Brüssel, Straßburg und Luxemburg auch in Zukunft an Betätigungsfeldern nicht fehlen wird: Mit irgendetwas müssen sie sich – ihre Zahl schwankt zwischen 15.000 und 40.000, keiner weiß das so genau – ja beschäftigen. Und wehe den Mitgliedsländern, die die Ausführungsbestimmungen zu den Verordnungen und Richtlinien nicht fristgerecht umsetzen; ihnen drohen saftige Strafen.
Die allgegenwärtigen Schrecken der Bürokratie – wer kann nicht ein Lied davon singen! Und doch erscheint mir die landläufige Kritik daran ein wenig wohlfeil. Denn in aller Regel gilt: Fürchterlicher als jede Bürokratie ist der Mangel an Bürokratie. Ich weiß, wovon ich rede. In zahlreichen Ländern der Welt, darunter nicht wenige meines Heimatkontinents, fehlt es bis heute an einer funktionierenden Verwaltung. Wo es aber mangels Ordnung keine Rechtssicherheit gibt, gibt es auch keine Verlässlichkeit, und damit sind der Willkür und Korruption Tür und Tor geöffnet. Und wenn nach einer Naturkatastrophe irgendwo auf der Welt «unbürokratische» Hilfe versprochen wird, kann man meist davon ausgehen, dass diese Hilfe am falschen Ort ankommt und wirkungslos bleibt – wenn sie denn überhaupt kommt. Es ist also kaum verwunderlich, dass sich andere Nationen – etwa Japan und einige Staaten der ehemaligen Sowjetunion – die deutsche Rechtsordnung zum Vorbild genommen haben.
Auch wenn es den meisten hierzulande nicht bewusst ist: Dass jeden Morgen beim Drücken des Schalters das Licht angeht; dass die Regale in den Supermärkten stets prall gefüllt sind; dass von frühmorgens bis spätabends jede halbe Stunde der Bus kommt, mag er auch einmal fünf Minuten Verspätung haben – all das versteht sich weiß Gott nicht von selbst. Wie eine riesige, gutgeölte Maschine schnurrt das öffentliche Leben hierzulande Tag für Tag ab – mag man sich auch darüber streiten, ob trotz oder wegen der Bürokratie. Mark Twain, der auf seiner Reise durch Deutschland mit der Eisenbahn die schmucken Stationsgebäude entlang der Strecke bewunderte, sah darin noch einen anderen Vorzug: «Ein Land in so schöner Ordnung zu halten, wie sie Deutschland aufweist, hat auch eine gescheite und praktische Seite, denn das beschäftigt und ernährt Tausende von Menschen, die sonst untätig wären und nur auf dumme Gedanken
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