Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
Bundeskanzlerin nicht zu erwarten ist.
Heute fürchtet sich kaum einer der näheren und ferneren Nachbarn der Deutschen mehr vor einem «marschierenden deutschen Wald». Und doch ist es befremdlich zu sehen, welch seltsame Volten die deutsche Geschichte zu schlagen vermag – wie im Falle der sogenannten Goethe-Eiche. Auf dem Ettersberg, ein paar Kilometer südlich von Weimar, gab es einst einen Buchenwald, in dessen Mitte sich eine große Eiche erhob. Am Fuße der Anhöhe steht bis heute das Schlösschen Ettersburg, in dem eine Zeitlang die von Goethe verehrte Frau von Stein lebte. Unter der Eiche im Buchenwald soll Goethes Walpurgisnacht aus dem Faust entstanden sein. So bürgerte sich der Name «Goethe-Eiche» ein. Im Jahr 1937 wurde der Buchenwald auf dem Ettersberg von Zwangsarbeitern abgeholzt. Es entstand dort ein Konzentrationslager mit Baracken und Stacheldraht und einem Krematorium. Die Goethe-Eiche blieb stehen, an ihren Ästen wurden fortan Gefangene gehenkt. Im August 1942 traf ein Luftangriff die Rüstungsfabriken und Werkstätten im Um kreis des Lagers. Das Feuer griff auch auf das Lager über und setzte die Goethe-Eiche in Brand. Nur ein verrußtes Gerippe blieb von ihr übrig. In Buchenwald, an der Stelle, an der einst Goethe am Faust schrieb, waren zwischen den Jahren 1938 und 1945 rund 250.000 Menschen gefangen, mehr als 50.000 von ihnen fanden hier den Tod.
Das einstige Konzentrationslager Buchenwald ist heute Gedenkstätte. Und sowenig die Welt sich heute vor marschierenden deutschen Wäldern fürchtet, so allgemein hat sich um den Globus der Gedanke durchgesetzt, dass die Ressourcen des Planeten Erde endlich sind. Vielerorts blickt man heute mit einer Mischung aus Bewunderung und Erstaunen auf die Deutschen, die sich so gut darauf verstehen, den Gedanken des Umweltschutzes mit ökonomischen Interessen in Einklang zu bringen und längst in der Entwicklung umweltschonender Technologien eine Führungsposition übernommen haben. Lange vorbei sind die Zeiten, als die Anhänger der Umweltbewegung als weltfremde Schwärmer verspottet wurden, die dem Land den Weg zu rück in die finstere Steinzeit weisen. Selbst in der Heimat von Mercedes, Porsche und Bosch ist heute ein Ministerpräsident mit dem Parteibuch der GRÜNEN kein Schreckgespenst mehr. Dass in Deutschland Ökologie und Ökonomie zwei Seiten einer Medaille sind, liegt im wahrsten Sinne des Wortes auf der Hand: Die Vorderseite der einstigen Fünfzig-Pfennig-Münze schmückte eine kniende Trümmerfrau mit einem Eichensetzling in der Hand. Eichenlaub zierte die Rückseite der Pfennigmünzen ebenso wie die des Fünfmarkscheins. Auch die deutschen Euro-Cent-Stücke erweisen heute auf ihrer Rückseite dem deutschesten aller Bäume ihre Reverenz.
Dem eingangs erwähnten brasilianischen Austauschschüler, der einst im Dezember nach Deutschland kam, hat es übrigens hierzulande so gut gefallen, das er eine neue Heimat gefunden hat. Er lebt heute als erfolgreicher Unternehmer in Berlin. Mit der deutschen Naturverbundenheit hat er umzugehen gelernt, so wie auch ich es getan habe. Einiges daran mag uns Zugezogenen immer noch wundersam erscheinen – etwa wenn auf dem Bahnsteig ein Mitbürger uns mit erhobenem Zeigefinger darauf aufmerksam macht, dass die Zeitung, die wir gerade in einem der diversen Abfallbehälter entsorgt haben, in Wahrheit in einen ganz anderen gehört. Wenn sich die deutsche Tugend der Naturverbundenheit mit der Tugend der Ordnungsliebe paart, kann es mitunter anstrengend werden.
Vor einiger Zeit las ich in Robert Musils Riesenroman Der Mann ohne Eigenschaften und fand darin das Lied meiner studentischen Wanderungen wieder. Die schöne Diotima unternimmt darin mit ihrem Vetter Ulrich einen Ausflug über Land, der Wagen rollt an entzückenden Tälern und Hängen von dunklen Fichtenwäldern vorbei, und Diotima stimmt schwärmend die Verse an: «Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben …?» – «Die Niederösterreichische Bodenbank», gibt Ulrich prompt zurück. «Das wissen Sie nicht, Kusine, dass alle Wälder hier der Bodenbank gehören? Und der Meister, den Sie loben wollen, ist ein bei ihr angestellter Forstmeister. Die Natur hier ist ein planmäßiges Produkt der Forstindustrie, ein reihenweise gesetzter Speicher der Zellulosefabrikation, was man ihr auch ohne weiteres ansehen kann.» Es mag für den ein oder anderen desillusionierend sein: Aber auch das prächtigste Eichenblatt, die schönste
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