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Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)

Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)

Titel: Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Asfa-Wossen Asserate
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fürchterliche Weise der sich bewahrheiten würde.
    «Ruhe und Ordnung», das klingt nach den schrecklichen Erfahrungen der Geschichte des 20. Jahrhunderts heute wie eine Drohung. Und niemand, der klar bei Verstand ist und seine sieben Sinne beisammen hat, wird sich politische Verhältnisse wünschen, die sich dadurch auszeichnen, dass wieder einer kommt und «richtig aufräumt».
    ∗∗∗
    «Ordnung ist die Verbindung des Vielen nach einer Regel.» So hat es einst der große Philosoph Immanuel Kant definiert. Auch seine Tage gestalteten sich nach der Weisheit: Ordnung ist das halbe Leben. Aber woraus besteht die andere Hälfte? Sie besteht in der Kunst, spontan zu sein und zu improvisieren. Und wenn die Rolltreppe einmal stehenbleibt, die Zeitung einmal nicht im Briefkasten liegt und der Bus einmal nicht kommt, wird davon die Welt nicht untergehen. Womöglich steht hinter der Liebe zur Ordnung der nur zu verständliche menschliche Wunsch, das Leben sei planbar. Jeder weiß, dass dem nicht so ist. Man kann sich die Ordnung wünschen, sie mag ein tiefes menschliches Bedürfnis sein, aber wir werden des Chaos niemals Herr werden. Keiner hat diese Einsicht anschaulicher vor Augen geführt als Loriot. Die Helden in fast allen seinen Sketchen führen einen heroischen, aber aussichtslosen Kampf inmitten der entfesselten Unordnung – und daraus beziehen sie ihre Komik.
    In einem seiner berühmtesten Filme, er kommt fast ohne Worte aus, spielt Loriot einen Steuerbeamten im Außendienst – in Trenchcoat, mit Hut und Aktentasche. Er wird vom Dienstmädchen des Hauses in den Salon geführt, die gnädigen Herrschaften lassen noch auf sich warten. Also nimmt er auf dem Sofa Platz, breitet seine Formulare auf dem Couchtisch aus, setzt die Brille auf und wieder ab – und lässt seinen Blick schweifen: Ein Bild hängt schief. Beim Versuch, es geradezurücken, rutscht das danebenhängende Gemälde aus der Fassung, ein anderes fällt zu Boden. Und in den folgenden drei Minuten vollzieht sich – getrieben vom Wunsch, die gestörte Ordnung wiederherzustellen – zu den Klängen von Mantovanis Piccolo Bolero ein Ballett der Zerstörung: Regale, Schränke und Tische fallen, Vitrinen und Teller gehen zu Bruch, bis das ganze Zimmer in Schutt und Asche liegt.

Pflichtgefühl
    I n Fontanes letztem Roman Der Stechlin treffen wir auf die Oberförstersgattin Ermyntrud Katzler, eine geborene Prinzessin Ippe-Büchsenstein. Aus «reiner Liebe» hat sie auf ihre adeligen Vorrechte verzichtet und sich «ohne Rücksicht auf Ebenbürtigkeit» vermählt. Sie gilt als eine «von der strengen Richtung», und selten lässt sie eine Gelegenheit verstreichen, die Überlegenheit der preußischen Tugenden zu betonen: «Wir leben eben nicht in der Welt um unsert-, sondern um andrer willen. Ich will nicht sagen, um der Menschheit willen, was eitel klingt, wiewohl es eigentlich wohl so sein sollte. Was uns obliegt, ist nicht die Lust des Lebens, auch nicht einmal die Liebe, die wirkliche, sondern lediglich die Pflicht …» – «Gewiß, Ermyntrud», springt der Gatte ihr bei. «Wir sind einig darüber. Es ist dies außerdem auch etwas speziell Preußisches. Wir sind dadurch vor andern Nationen ausgezeichnet, und selbst bei denen, die uns nicht begreifen oder übelwollen, dämmert die Vorstellung von unsrer daraus entspringenden Überlegenheit.»
    Man hat diese Neigung, im Preußentum eine überlegene Kulturform zu sehen, Borussismus genannt. Und in der Betonung seiner Eigentümlichkeit hat sich das Preußentum eine Reihe von bürgerlichen Tugenden zu eigen gemacht und sie zu preußischen erklärt: den Anstand und die Bescheidenheit, die Disziplin und den Fleiß, den Gehorsam und den Mut, den Ordnungssinn und die Pünktlichkeit, die Sparsamkeit und die Toleranz. Doch an der Spitze des preußischen Tugendkatalogs thront die Pflicht. Wo sich der König selbst als «erster Diener des Staates» sah, durfte man dies auch von seinen Bürgern verlangen. «Die erste Pflicht ist, seinem Vaterlande zu dienen» – mit diesen Worten eröffnete Friedrich der Große sein politisches Testament. Dienst und Gehorsam wurden insbesondere von Beamten, Soldaten und Offizieren erwartet.
    Wenn man wissen will, was jene preußische Tugend der Pflicht damals bedeutete, kann man auf den preußischen General Friedrich August Ludwig von der Marwitz blicken, dessen Lebensspanne die Jahre 1777 bis 1837 umfasste. Er diente seinem Land in jenen stürmischen Zeiten, als Napoleon die

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