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Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)

Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)

Titel: Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Asfa-Wossen Asserate
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nach Afrika. Eine Woche verstrich, ohne dass ich eine Antwort erhalten hätte, und meine deutschen Geschäftspartner begannen langsam nervös zu werden. Als eine weitere Woche vergangen war, griff ich zum Telephon. Es dauerte eine Weile, bis ich meinen Ansprechpartner im Kongo in der Leitung hatte. Ich rief ihm zu: «Haben Sie denn mein Telex nicht erhalten?» Und dann fiel der Satz, den ich schon so oft gehört hatte und immer wieder hören sollte. «Die Europäer haben die Uhr, wir haben die Zeit.»
    Dass die «Orientalen» ein Problem mit der Pünktlichkeit haben, ist leider alles andere als ein Vorurteil. Wenn ich, nach so langer Zeit in Deutschland und Europa weitgehend europäisch sozialisiert, meine äthiopischen Freunde vor einer Verabredung darauf hinweise, ich würde fünfzehn Minuten über die verabredete Zeit warten – das Maß an Verspätung, das jedermann zu konzedieren ist – und nicht länger, ernte ich regelmäßig Unverständnis: Warum denn eigentlich?
    «Einszweidrei, im Sauseschritt/Läuft die Zeit; wir laufen mit», heißt es bei Wilhelm Busch: In der Hektik der europäischen Zivilisation scheint Zeit ein kostbares Gut, die Stechuhr gibt den Takt vor. Anthropologen und Mentalitätshistoriker haben versucht, das unterschiedliche Zeitgefühl im Orient und in Europa klimatisch zu erklären: In Europa hatte man eben nie richtig Zeit für Muße, ständig musste man an den Winter denken und daran, für die karge Zeit zu sparen und Vorräte anzulegen. Die europäische Emsigkeit und der Bienenfleiß würden sich daraus erklären lassen ebenso wie die Entdeckerfreude, mit der Europa nach der Welt ausgriff. Das europäische Zeitgefühl resultiere mithin aus den das Jahr in unterschiedliche Klimate teilenden Jahreszeiten. Daran mag etwas Wahres sein; auch die Lässigkeit, mit der man den meisten Dingen in den südeuropäischen mediterranen Ländern begegnet im Gegensatz zur Verbindlichkeit der Nordeuropäer, spricht dafür. Und doch ist es gar nicht so lange her, dass die Europäer in ihrer ganz überwiegenden Zahl selbst ein «orientalisches» Verhältnis zur Zeit hatten, die Zeit ein uferloses Meer war, in dem man sich schwimmend bewegte, ohne jemals an Grenzen zu gelangen. Den Fabrikaufsehern des 19. Jahrhunderts in England und in Deutschland fiel es schwer, die aus dem Kleinbauerntum stammenden Arbeiter an die Sklaverei der Uhr und die Regelmäßigkeit eines – damals keineswegs unüblichen – 16-Stunden-Arbeitstages zu gewöhnen.
    Ich begegnete der Tugend der deutschen Pünktlichkeit in Äthiopien bereits in sehr jungen Jahren, und dies in einer recht traditionellen Erscheinung. Ich war damals vier oder fünf Jahre alt und begleitete zusammen mit meinen Vettern Kaiser Haile Selassie auf seinem traditionellen Rundgang auf dem jährlichen Rot-Kreuz-Fest in Addis Abeba. Wie jedes Jahr waren auf der «Wiese Seiner Majestät» in der äthiopischen Hauptstadt Dutzende von Zelten und Ständen aufgebaut, an denen die in Äthiopien diplomatisch vertretenen Länder kulinarische Spezialitäten zugunsten des Roten Kreuzes verkauften. Und wie jedes Jahr fieberten wir Kinder dem Fest im Allgemeinen und dem Rundgang des Kaisers im Besonderen entgegen. Denn überall, wo der Kaiser haltmachte, bekam er ein Geschenk überreicht, das er, sowie er das nächste Zelt betrat, an einen von uns weitergab. Und wenn es nicht gerade eine Flasche Wein oder Schnaps oder sonst etwas war, das für Kinder nicht geeignet schien, war es uns erlaubt, die Geschenke zu behalten. Auf diese Weise erstand ich im Zelt der Deutschen Botschaft eine deutsche Kuckucksuhr. Wie es sich für eine original Schwarzwälder Kuckucksuhr gehörte, war sie reichhaltig mit handgeschnitzten Verzierungen geschmückt. Und pünktlich zur vollen Stunde öffneten sich die Türchen über dem Zifferblatt: Der kleine Kuckuck erschien und verbeugte sich zu jedem Schlag mit flatternden Flügeln und aufgerissenem Schnabel. Meine Kuckucksuhr von der «Wiese Seiner Majestät» bekam dann einen Ehrenplatz im Privatsalon unseres Hauses. Für mich gab es damals kaum etwas Aufregenderes, als Stunde um Stunde den Kuckuck aus seinem Häuschen kommen zu sehen und zu hören, wie er seinen Ruf durch die Gänge der Villa erschallen ließ – eine Vorliebe, die offensichtlich nicht die ganze Familie teilte. Denn nach einigen Wochen war die Kuckucksuhr auf einmal spurlos verschwunden und weder meine Eltern noch unser Majordomus konnten mir sagen, wohin.
    Eine wertvolle Uhr, eine

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