Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
Kriegen. Wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte.» Lange Zeit war dieser Grabstein hinter Mauern verschwunden, bis er wieder freigelegt wurde. Heute ist er in der Friedersdorfer Dorfkirche zu besichtigen. Bundespräsident Theodor Heuss erinnerte an ihn in seiner Gedenkrede zum zehnten Jahrestag des 20. Juli 1944. Damals sagte er: «So mag das Preußische als moralische Substanz begriffen werden. Und wenn irgendwo, dann steht Preußens Denkmal in einer Dorfkirche der Mark Brandenburg. In Friedersdorf.»
Die preußischen Tugenden von einst haben ihre Strahlkraft verloren, allen voran die Tugend der Pflicht. Im Jahre 1982, als Deutschland und die damalige Regierungspartei der Sozialdemokraten mit dem NATO-Doppelbeschluss rangen, versuchte ihnen Oskar Lafontaine den Todesstoß zu versetzen, indem er sie als «Sekundärtugenden» geißelte: «Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit, Standhaftigkeit … Das sind Sekundärtugenden. Ganz präzis gesagt: Damit kann man auch ein KZ betreiben.» Nur selten wird heute noch die Tugend der Pflicht bemüht, nicht einmal Oberförstersgattinnen wollen sich dazu noch hergeben, weder im preußischen Berlin noch anderswo. In einigen Theatern und Konzerthäusern gibt es noch Pflicht-Abonnements, die sich von den ebenfalls angebotenen Wahl-Abonnements dadurch unterscheiden, dass man sich die Termine nicht frei aussuchen kann. Beim Eiskunstlaufen ist der Pflichttanz seit den Olympischen Spielen in Kanada 2010 abgeschafft. Bei den Reisegruppen, die, oft unter der Leitung eines resoluten Führers mit Schirm, zahlreich und rastlos durch die Haupt- und Kulturstädte der Welt eilen, macht sich Erleichterung breit, wenn das Pflichtprogramm hinter ihnen liegt und die Sehenswürdigkeiten abgehakt sind: Jetzt kann der gemütliche Teil der Reise beginnen. Allüberall hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass das Leben zuvörderst Spaß machen soll: Was nicht mit Lust und Leichtigkeit getan werden kann, sollte man tunlichst lassen, das gilt erst recht für die Wahl des Berufes. Wehe, wenn du dich in deiner Profession nicht beständig selbst verwirklichen kannst, nicht pausenlos lächelnd durchs Leben tanzt, dann hast du etwas falsch gemacht.
Kann es aber tatsächlich ein Leben frei von Pflichten geben? Das Wort «Pflicht» leitet sich von «pflegen» ab – vielleicht sollte man sich das gelegentlich in Erinnerung rufen. In der Generation derer, die heute siebzig und älter sind, gibt es noch Menschen, die man gelegentlich bei Ehrungen oder an Geburtstagen als «Pflichtmenschen» bezeichnet. Sie mögen ein wenig knorrig-altmodisch wirken, aber man denkt bei ihnen gar nicht an Unterordnung und Gehorsam, sondern an Charaktereigenschaften wie Standfestigkeit, Ernst und Verantwortungsbewusstsein. Gustav Heinemann, Wolfgang Schäuble und Helmut Schmidt sind mit diesem Beinamen versehen worden. Sie zeichnet das aus, was der preußische Philosoph aus Königsberg einst als die «Tugenden gegen sich selbst» oder die «Tugendpflichten» bezeichnete: «Der erste Grundsatz der Pflicht gegen sich selbst liegt in dem Spruch: Lebe der Natur gemäß, d. i. erhalte dich in der Vollkommenheit der Natur; der zweite in dem Satz: Mache dich vollkommener, als die bloße Natur dich schuf.» Als Laster, die dem Grundsatz des Menschen als einem natürlichen Wesen widerstreiten, nennt Kant übermäßigen Genuss und den Selbstmord; als Laster, die dem Grundsatz des Menschen als einem moralischen Wesen widerstreiten, verweist der Philosoph auf die Lüge, den Geiz und die falsche Demut, auch Kriecherei genannt.
So kommt es bei der «Tugendpflicht» stets auf die innere, die moralische Freiheit des Menschen an. Sie verträgt sich nicht mit Zwang und Gehorsam, sie ist ein Versprechen aus freien Stücken. Der Mensch selbst ist es, der sich, um seiner Vervollkommnung willen, Grundsätze und Pflichten auferlegt. Bedauernswert derjenige, der es sich zum Grundsatz gemacht hat, keine Grundsätze zu haben: Er hat auch keinen Charakter.
Pünktlichkeit
E s muss irgendwann zu Beginn der achtziger Jahre gewesen sein. Ich hatte in Deutschland Fuß gefasst und war dabei, mich beruflich zu etablieren – als Unternehmensberater insbesondere für Afrika und den Mittleren Osten. Für eine deutsche Firma hatte ich eine größere Investition im Kongo vermittelt. Telefaxgeräte waren damals noch kaum verbreitet, von elektronischer Post ganz zu schweigen, und so schickte ich in einer nicht unwichtigen Angelegenheit ein Telex
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