Deutschland 2.0
Schweiß- und Tränenrede daraufeinzustimmen, dass die gewonnene Freiheit auch ihren materiellen Preis haben werde, ist auch zwanzig Jahre danach ein legitimer
Vorwurf. Kohl war eben nicht Churchill. Dennoch: An den realen Kosten hätte auch so eine Rede nichts verändert – mit einer
klaren Ansage hätte man aber den missgelaunten Murmelchor beschwichtigen können, der bis heute immer wieder anschwillt, wenn
im deutsch-deutschen Gefüge nicht alles rund läuft.
In den Tagen nach dem 9. November gab es nur wenige Deutsche, die auch nur ansatzweise begreifen konnten, was der Fall der Mauer in Berlin für Deutschlands
und Europas Zukunft bedeuten würde. Das soll kein Vorwurf sein, schon gar kein besserwisserischer Einwurf nach zwanzig Jahren,
sondern nur ein Hinweis auf das völlige Neuland, das Bürger, Journalisten und Politiker damals betraten. Es gab in unserem
kollektiven historischen Gedächtnis kein Vorbild für das, was wir gerade erlebten. Ein Staat, ein ganzes Imperium implodierte,
weil die Bürgerinnen und Bürger in der DDR und den übrigen im sowjetischen Einflussbereich liegenden Staaten nicht mehr mitspielen
wollten.
Auch ich brachte damals nicht so viel Fantasie auf, mir vorzustellen, dass die staatliche Einheit Deutschlands nach der Öffnung
der Mauer am Abend des 9. November nun eher eine Frage von Dekaden denn von wenigen Jahren war. Mit Revolutionen hatte ich trotz meiner Beschäftigung
bei der linken, abteilungsweise radikalen ›taz‹ keinerlei Erfahrung, alles, was ich über Politik wusste, stammte aus Büchern
und meiner begrenzten persönlichen Erfahrung als junger Bürger der Bundesrepublik Deutschland; einem Land, das in seiner vierzigjährigen
Geschichte nie auf Revolte, sondern immer auf Ausgleich gesetzt hatte.
Regierungen wurden bei uns nicht einfach abgewählt, sondern modifiziert. Die SPD durfte in Kiesingers Großer Koalition von
1966 bis 1969 erst einmal üben, bevor sie selbst völlig das Zepter übernahm. Auch 1982, als Helmut Kohl mit einem konstruktivenMisstrauensvotum mit Hilfe der Liberalen zum Kanzler gewählt wurde, blieb die FDP auf der Regierungsbank sitzen. Die »geistig
moralische Wende« war also kein U-Turn der deutschen Politik, sondern bloß ein Überholmanöver. Und Kohls wichtigstes und umstrittenstes politisches Projekt seiner
frühen Jahre – die Durchsetzung der Stationierung von Cruise-Missiles und Pershing-I I-Raketen auf deutschem Boden, die sogenannte Nachrüstung – hatte gar nicht er selbst erdacht, sondern sein Vorgänger, der SP D-Kanzler Helmut Schmidt.
Trotz der politischen Veränderungen gab es also immer ein gerütteltes Maß an politischer Kontinuität. Auf Spitz auf Knopf
stand es nie. Der Terror der Roten-Armee-Fraktion hatte die Republik zwar erschüttert und in schwere Krisen gestürzt, aber
nie ihr politisches Fundament ins Wanken gebracht. Als linke Studenten in den Jahren 1967 / 68 »den Muff von tausend Jahren« abschüttelten und in fast allen deutschen Unistädten lautstark ihre Revolte zelebrierten,
wirkten sie mit ihren langen Haaren und kernigen Transparenten zwar sehr verwegen, aber dann beeilten sie sich, einen Marsch
durch die Institutionen anzukündigen – bei dem sie sich dann schnell wieder beruhigten und durch die Republik wohl mehr verändert
wurden, als die Republik durch sie.
Willy Brandts Entspannungspolitik, die Ratifizierung der Ostverträge und die faktische Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze (und
der damit verbundene Verzicht auf die deutschen Ostgebiete) waren in der Bundesrepublik zwar sehr umstritten. Anfang der siebziger
Jahre wehte noch einmal der garstige Geist von Weimar durch die junge Bundesrepublik: Brandt wurde persönlich diffamiert,
die Union konnte und wollte ihren Machtverlust nach den Bundestagswahlen 1969 jahrelang nicht akzeptieren. Viele ihrer Anhänger
griffen zu rabiaten Methoden. Ich erinnere mich gut, mit welcher Aggressivität die deutschen Konservativen damals gegen die
SPD zu Felde zogen – und habe das in meiner Familie noch persönlich erlebt, als mein Vater im CDU-dominiertenwestlichen Eichsfeld in Niedersachsen wegen seiner Mitgliedschaft in der SPD fast täglich mit anonymen Drohungen und gehässigen
Telefonanrufen malträtiert wurde. Ein über Brandts Ostpolitik erboster, angetrunkener CD U-Anhänger schlug ihn Anfang der Siebziger sogar krankenhausreif.
Doch auch dieser Zorn verrauchte mit den Jahren. Die von
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