Deutschland 2.0
freien Welt. Und zwar nicht erst seit Kennedys berühmter Rede nach dem Mauerbau
am Rathaus Schöneberg im Juni 1963, in der er die Halbstadt mit dem Satz »Ich bin ein Berliner« zur Frontstadt der freien
Welt machte.
West-Berlin wurde zwar jahrzehntelang von der Bundesrepublik subventioniert. Doch die Investition hatte sich gelohnt. Den
Misthaufen, auf dem die schönsten Rosen blühen – so hat Peter Paul Zahl dieses merkwürdige politische Konglomerat einmal beschrieben –, konnte man eben auch noch in Potsdam riechen. In den fünfziger Jahren war West-Berlin der Notausgang für Hunderttausende
DD R-Flüchtlinge . Wäre die Mauer »nur« an den Rändern von Mecklenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen entlang verlaufen, hätte die
SED das Bauwerk vermutlich besser als besonders stark gesicherte Landesgrenze verkaufen können. Dass am 13. August 1961 aber eine Stadt geteilt wurde, ließ sich nicht schönreden. Zum Symbol des Endes der Teilung wurde dann ja auch
der Fall der Mauer in Berlin und nicht die Öffnung eines Grenzübergangs. Wer weiß, wie die Nachkriegsgeschichte ausgesehen
hätte, wenn die West-Alliierten im Sommer 1945 sich nicht aus Thüringen, Mecklenburg und Teilen von Sachsen zurückgezogen
hätten, um diese Territorien bei den Russen gegen das halbe Berlin einzutauschen. Die DDR wäre kleiner gewesen – aber vielleicht
etwas haltbarer.
Denn gegen den direkten Vergleich in ihrer Mitte, gegen die tägliche Berieselung durch Fernsehsender und Radioprogramme, gegen
die gut situierten Besuchermassen und die drei Mal sogroßen Autos auf den Transitwegen von Berlin nach Bayern und Niedersachsen war die SED letztlich völlig machtlos. Eine DDR
ohne West-Berlin hätte es den Machthabern sehr erleichtert, sich abzuschotten. So aber wurde der täglichen Indoktrination
und Propaganda permanent widersprochen. Der Westen hätte ohne seinen Vorposten an der Spree nicht halb so viel politische
Spannung in der DDR erzeugen können. Zum Vergleich reicht heute ein Blick nach Nordkorea, einem Land, von dem man kaum etwas
weiß – außer, dass seine Bewohner vom stalinistischen Regime grenzenlos gegängelt werden.
Mit dem Fall der Mauer verschwand auch ihr eigener Mythos – heute scheint sich in Berlin außer Touristen kaum noch jemand
für das einst 155 Kilometer lange Bauwerk zu interessieren. So wenig man den Fall der Mauer vorhersehen wollte, so schnell wurde das Monstrum
geschleift und seine Spuren aus der Stadtlandschaft getilgt. Vielleicht ist daran auch das schlechte Gewissen der West-Berliner
schuld, die es sich in den achtziger Jahren im Schatten der Mauer ganz gemütlich gemacht haben. Nachdem die Mauer verschwunden
war, änderte sich jedenfalls nicht nur das Leben der Ostdeutschen grundlegend – auch der Mythos West-Berlin verschwand. Heute
ist Berlin eine interessante, lebens- und preiswerte Hauptstadt im neuen Europa. Das ist schon eine ganze Menge – aber für
einen Mythos reicht es wohl nicht mehr, obwohl die Stadt 1989 auf das Doppelte angewachsen ist. Der Mythos West-Berlin hat
seinen Zweck erfüllt. Hätte es ihn nicht gegeben, wären sich Ost- und Westdeutsche nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums
vermutlich noch fremder gewesen, als das nach vierzig Jahren Teilung ohnehin der Fall war.
Die westdeutsche Phrase von den »Brüdern und Schwestern im Osten« war sicher gut gemeint, die Realität sah freilich anders
aus. Die Flüchtlinge aus der DDR wurden im Westen ähnlich behandeltwie die Vertriebenen, die aus den verlorenen Ostgebieten meist nur mit einem Koffer in der Hand nach einem neuen Leben suchten:
bestenfalls wie ungebetene Gäste. Als einer meiner Onkel Mitte der Fünfziger einen westdeutschen Verwandten besuchte und ihm
eröffnete, er wolle die DDR nun für immer verlassen und in der Bundesrepublik sein Glück versuchen, fragte der bloß auf Sächsisch:
»Wann gäsdn widdr?« Mein Onkel hat ihn nie wieder besucht – und fand mit Hilfe seines ebenfalls geflüchteten Bruders einen
Job als Bergmann im Ruhrgebiet.
Dennoch: Dass die deutsche Einheit im Prinzip eine gute Sache war, wird heute wohl nicht einmal mehr die Linkspartei bestreiten,
deren Vorgängerpartei PDS und SED sich vor 20 Jahren noch heftig gegen ihre Verwirklichung stemmten. Aber natürlich sind seitdem und auch damals schon Fehler gemacht worden.
Über diese vermeintlichen Irrtümer, die im Zusammenhang mit der deutschen Einheit
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