Deutschland 2.0
anfreunden. Der italienische
Christdemokrat Andreotti verstieg sich gar zu der Bemerkung, er möge Deutschland so sehr, dass er am liebsten zwei davon hätte.
Als Helmut Kohl im Januar 1990 einen E U-Gipfel besuchte, sei ihm eine »eisige Atmosphäre« entgegengeschlagen, schrieb er später in seinen Memoiren.
Ende November präsentierte Kohl seinen Zehn-Punkte-Plan im Parlament, sehr zur Überraschung seines Vizekanzlers und Außenministers
übrigens. Genscher hörte zum ersten Mal, wie der Kanzler sich den künftigen Weg zur Wiedervereinigung vorstellte. Helmut Kohl
hatte nur das Weiße Haus über seinen Vorstoß in Kenntnis gesetzt. Genscher und Kohl saßen in derselben Regierung, sie hatten
auch ähnliche Ziele, aber sie saßen nicht immer im selben Boot. Die Herren des Außenministeriums und des Kanzleramts hatten
nach dem Mauerfall vor allem eins begriffen: Jede kleinste Zuckung von ihnen würde nun unweigerlich in den Geschichtsbüchern
landen.
Die Konkurrenz um die Einträge in die Annalen war bereits im vollen Gange. Auch die ergreifenden Szenen, die sich Ende September
in der Prager Botschaft abspielten, als Hans-DietrichGenscher auf den Balkon trat und seine Ankündigung über »Ihre Ausreise« von herzzerreißenden Schreien im Jubel Tausender DD R-Flüchtlinge unterging, die auf einen Transfer in den Westen warteten, bedürfen der Erläuterung.
Der Architekt dieses Unternehmens hieß nicht Hans-Dietrich Genscher, sondern Rudolf Seiters. In wochenlangen Verhandlungen
hatte der christdemokratische Kanzleramtschef dem DD R-Außenministerium die Entscheidung abgetrotzt, die Flüchtlinge endlich ziehen zu lassen. Wie der Bonner Publizist und Politologe Gerd Langguth
später rekonstruierte, spielte Genscher als Außenminister der Bundesrepublik in den Verhandlungen zwar eine wichtige Rolle.
Doch dass Seiters’ Name heute in der Erinnerung an diese entscheidende Episode im deutsch-deutschen Verhandlungspoker kaum
genannt wird, hat eher mit der Macht von Fernsehbildern als den historischen Geschehnissen zu tun. Seiters ließ Genscher damals
den Vortritt auf dem Balkon – und verbarg sich bescheiden hinter dem Vorhang der Geschichte. Genschers Auftritt, die erlösenden
Schreie, all das bleibt ein bewegender Moment der jüngeren deutschen Geschichte. Die Bildunterschrift unter dieser Szene freilich
erzählt nur die halbe Wahrheit.
Helmut Kohl hat in den entscheidenden Monaten 1989 / 90 viele politische Blockaden und Barrieren in Richtung Einheit aus dem Weg geräumt. Was er in Gesprächen mit den europäischen
Nachbarn richtig gemacht hat, hätte ein anderer Kanzler durchaus falsch machen können. Den Titel »Kanzler der Einheit« trägt
der Pfälzer völlig zu Recht. Dennoch hätte Kohl im Alleingang nie erreichen können, dass am 3. Oktober die schwarz-rot-goldene Flagge über dem Brandenburger Tor aufgezogen wurde, im neuen Deutschland die D-Mark eingeführt und die ganze Bundesrepublik Mitglied der Nato war. Der amerikanische Präsident George Bush, unmittelbar nach
dem Mauerfall noch zögernd und abwartend, führte mit Michail Gorbatschow im Frühjahr1990 in Washington die entscheidenden Gespräche über die Frage, wie das künftige Deutschland aussehen sollte. Die Gespräche,
die Helmut Kohl später in seiner Strickjacke mit Gorbatschow führte, waren zwar wichtig – die Grundlagen des Einheitsfahrplans
hatten die Supermächte aber längst gelegt.
Erstaunlicherweise schlug uns Deutschen anstelle von Skepsis oder Feindseligkeit aus der ganzen Welt eine Welle der Sympathie
entgegen. Den Oktober und November 1989 habe ich als Stipendiat in den USA verbracht. Wildfremde Menschen fielen mir nach
dem Fall der Mauer um den Hals und wünschten mir, dem Deutschen, alles Gute, als hätte ich im Lotto gewonnen oder mindestens
Geburtstag. Für meine amerikanischen Freunde und Bekannten war am Abend des 9. November auch schon völlig klar, dass die Vereinigung nun nur eine Frage der Zeit wäre.
»So schnell geht das nicht!«, sagte ich dann.
»Wieso?«, fragten die Amerikaner erstaunt. »Wenn der Osten jetzt wie der Westen werden will, wozu braucht man dann noch eine
DDR?«
Die DD R-Bürger , die in der Nacht des 9. November über den Kudamm marschiert waren, wollten nicht nur mal eben so Hallo sagen und dann wieder an ihre Arbeitsplätze
in den volkseigenen Betrieben zurückkehren und am Ende des Monats sogenannte Alu-Chips in der Lohntüte
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