Deutschland 2.0
begangen worden sind, ist schon viel behauptet
und geschrieben worden. Es ist ein ausgesprochenes Lieblingsthema von Leuten, die die Einheit selbst für einen Kardinalfehler
der deutschen Geschichte halten. Manche Buchverlage und Parteien leben davon, diese vermeintlichen Fehler und Irrtümer immer
wieder aufs Neue zu beklagen. Am Ende steht immer wieder dieselbe Botschaft: Der Westen hat sich den Osten unter den Nagel
gerissen. Den Ostdeutschen wurden blühende Landschaften versprochen, stattdessen haben sie Bananen, ein paar Autobahnen und
später Hartz IV gekriegt.
Ausgerechnet die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley hat dieser Enttäuschung nach der Wende eine Überschrift gegeben: »Wir wollten
Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.« Dahinter steckte die Vorstellung, dass die revolutionäre, anarchische Situation
vom Herbst 1989 tatsächlich Spielräume für eine neue Politik jenseits der eingefahrenen, im Westen erprobten und bewährten
Muster zulassen würde. Die Idee vom »dritten Weg«, einer Gesellschaft frei von kapitalistischen Zwängen und sozialistischerBevormundung, spukte auch in den Köpfen vieler Intellektueller und Bürgerrechtler herum.
Tatsächlich waren die meisten Bürgerrechtler im Osten im Sommer und Herbst 1989 nicht angetreten, um ein Jahr später bei Helmut
Kohl den Schlüssel für die Deutsche Demokratische Republik abzugeben. Viele begriffen sich selbst als undogmatische Linke.
Die Vision eines demokratischen Sozialismus hielten sie nicht für überholt. Sie setzten sich mit der SED an einen runden Tisch,
um über ein neues Deutschland zu verhandeln. Während die Massen auf den Straßen schon längst die Wiedervereinigung und die D-Mark forderten, arbeiteten sie an einer anderen, besseren Verfassung der DDR. Am Ende hofften sie wenigstens darauf, dass die Wiedervereinigung mehr bedeuten würde als die Übernahme westlicher Systemregeln.
Es kam anders. Und es konnte auch gar nicht anders kommen.
Der Fall der Mauer wird heute als Schlusspunkt einer Epoche betrachtet, die zunächst unfreiwillige Öffnung der Grenzübergänge
markiert für Historiker das Ende des Kalten Krieges. In den Wochen und Monaten nach dem Mauerfall machte die Geschichte aber
keine Pause. In den Gesprächen zwischen Washington und Moskau ging es nicht nur um die Frage, wie sich Ost- und Westdeutschland
politisch miteinander ins Benehmen setzen würden, sondern sofort auch um den Entwurf einer neuen Ordnung für Europa und den
Rest der Welt.
Eine reformierte DDR kam in diesen Planspielen nicht vor. Vermutlich hätte Michail Gorbatschow nichts dagegen gehabt, wenn
sich die Umbrüche in Ost- und Mitteleuropa damals langsamer vollzogen und ihm zu Hause mehr Spielräume für sein politisches
Rückzugsgefecht gelassen hätten. Doch die Sowjetunion war finanziell nicht mehr in der Lage, das sozialistische Experiment
auf deutschem Boden materiell abzusichern. Die Russen zogen sich überall zurück: aus Afghanistan – zunächstmit der Roten Armee, dann strichen sie ihrem Marionettenregime in Kabul die Devisen. Sie stoppten die Kredite für Kuba und
Somalia. Der globale Herrschaftsanspruch des Kommunismus wurde von Gorbatschow kassiert. Schon im Frühjahr 1990 ging es für
den Kreml in seiner Europapolitik nur noch um die Frage, wie weit der Einfluss des Westens gen Osten reichen würde.
Die staatliche und ökonomische Existenz der DDR war genau so lange gesichert, wie die Sowjets am deutschen Vorposten interessiert
waren – keinen Tag länger. Doch 1989 war Moskau mit der Lösung eigener Probleme beschäftigt und finanziell gar nicht mehr
in der Lage, Honeckers Starrsinn weiter zu alimentieren. Die Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik ist deshalb
zwar auch als deutscher Sonderfall zu betrachten – in erster Linie aber als eine Fußnote in der Historie des russischen Imperiums.
Deshalb gab es nach dem Zusammenbruch des SE D-Regimes im Herbst und Winter 1989 nie die Chance für eine dauerhafte Reformierung der DDR – weil die DDR bankrott war. Die Spitzen
der SED und der Staatssicherheit wussten das – der Westen ahnte nicht einmal, wie marode es hinter den Industriefassaden wirklich
aussah. Jahrzehntelang hatte die SED den Westen über die vermeintliche ökonomische Stärke des Arbeiter- und Bauernstaates
getäuscht. Selbst in den westdeutschen Schulen wurde gelehrt, die DDR gehöre zu den zehn wichtigsten Industrienationen der
Welt. Diese
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