Deutschland 2.0
durch keine unabhängige Untersuchung gestützte Behauptung galt auch im Bonner Kanzleramt als gesicherte Erkenntnis.
Auch auf den Wirtschaftsseiten konservativer Zeitungen wurde sie immer wieder gerne dargelegt. Und tatsächlich: In den Vorzeigebetrieben
des realen Sozialismus, bei Carl Zeiss in Jena oder der Warnow-Werft in Rostock, bei der Filmfabrik Or-Wo in Wolfen bei Bitterfeld
schienen Technik und Ökonomie auf modernstem Stand des Weltniveaus zu sein. Jedenfalls gelang es der SED, ihren westlichen
Besuchergruppen diesen Eindruck immer wieder zu vermitteln.
Dass man auf einen Trabant sechzehn Jahre warten musste, bevor er nach Bestellung ausgeliefert werden konnte, und ein Telefonanschluss
25 Jahre Geduld voraussetzte, dass in Leipzig und Erfurt die Altbauten in sich zusammenfielen, das Schienen- und Straßennetz
der DDR völlig veraltet und die Entwicklung der Mikroelektronik trotz milliardenschwerer Investitionen noch in vorsintflutlichen
Bahnen verharrte, fiel angesichts der Behauptung, die DDR spiele wirtschaftlich in der Weltliga ganz vorne mit, dann gar nicht
mehr so in Betracht.
Über die reale Lage der DD R-Wirtschaft existierte von Bonn bis nach Washington kein klares Bild. Auch die Geheimdienste tappten im Dunkeln – oder fielen auf die
Propaganda über das Wirtschaftswunderland DDR gnadenlos herein. Der CIA vermerkte in seinem »Factbook« noch im Jahre 1987,
dass das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in der DDR hundert Dollar über dem in der Bundesrepublik liege, wie die amerikanische
Historikerin Mary Elise Sarotte in einem Resümee über die DD R-Wirtschaft im November 2009 erstaunt notierte.
Dabei war die westliche »DD R-Forschung « zumindest in den ersten Jahren der Bonner Republik durchaus eine ernsthafte Beschäftigung. Jedes Jahr legte das »Gesamtdeutsche
Ministerium« der Regierung einen dicken Bericht vor, inklusive Handlungsanweisungen, was bei einer Wiedervereinigung zu geschehen
habe. Auch die SP D-Opposition war mit von der Partie. So hat der Hamburger Bundestagsabgeordnete Helmut Schmidt schon 1959 eine Arbeitsgruppe seiner Fraktion
zusammengestellt, die der Frage nachging, wie denn das »Verhältnis der ökonomischen Leistungsfähigkeit zwischen Westdeutschland
und Ostdeutschland« wirklich sei. Ergebnis: 5:3 für Westdeutschland. Und später, sagt Schmidt, im Jahr des Mauerfalls 1989,
»war es sicherlich 10:3«.
Wäre die Mauer im November 1989 nicht gefallen, hätte die SE D-Führung um Egon Krenz weiter auf Repression und Abschottunggesetzt, dann hätte die DDR spätestens 1991 Konkurs anmelden müssen. Schon 1989 hing die DD R-Ökonomie am Tropf des westlichen Kreditwesens – hätten die Banken einen unverstellten Einblick in die reale Wirtschaftslage gehabt,
wäre diese Lebensleitung wohl schnell gekappt und die DDR möglicherweise unter das Regime des Internationalen Währungsfonds
gestellt worden. Die schnelle Wiedervereinigung, ermöglicht durch die politische Kapitulation der SED, verhinderte dieses
Szenario. Wenn es tatsächlich eingetreten wäre, würden die Diskussionen um vermeintliche Fehler im Einheitsprozess heute vermutlich
anders aussehen: Die Fehlentscheidungen, die im Zusammenhang mit dem deutschen Einigungsprozess getroffen wurden, würde man
vermutlich nicht isoliert betrachten, sondern eher vor dem Hintergrund der sozialistischen Vorgeschichte bewerten.
Rudolf Seiters, der von 1989 bis 1991 als Chef des Bonner Kanzleramts im Zentrum des Geschehens steckte, drückt es im Rückblick
so aus: »Wenn es heute noch mangelt, ist das eben nicht eine Folge der deutschen Einheit, sondern eine Hinterlassenschaft
der deutschen Teilung.« Das ist kein Freibrief für sämtliche Entscheidungen, die nach dem 3. Oktober 1990 gefällt wurden, aber ein notwendiger Hinweis. Dass inzwischen jährlich rund hundert Milliarden Euro Transferleistungen
in den Osten fließen und ein Ende der Finanzhilfen nicht in Aussicht steht, konnten Seiters und Kohl wohl nicht ahnen. »Vielleicht
hätten wir damals, wenn wir das Ausmaß der Wirtschaftskrise und das Ausmaß der bevorstehenden Pleite der DDR in vollem Umfang
erkannt hätten, die Mittel der Steuererhöhung doch nicht ausgeschlossen«, räumt Seiters heute ein. Stattdessen erweckte Kohl
damals den Eindruck, man könne die Kosten der Einheit aus der Bonner Portokasse bezahlen.
Dass es der Kanzler 1990 versäumte, die wiedervereinigten Deutschen in einer großen Blut-,
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