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Deutschland 2.0

Titel: Deutschland 2.0 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Christian Malzahn
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Helmut Kohl bereits 1980 in einem Koalitionspapier angekündigte »geistig-moralische
     Wende« – eine in seiner Regierungserklärung explizit gegen die Revolte von 1968 und die sozialliberale Ära gerichtete christdemokratische
     Gegenreformation – blieb aus. Kohls Ostpolitik unterschied sich keinen Millimeter von der seines Vorgängers Helmut Schmidt.
    Nach der Bundestagswahl im März 1983 sprach der Pfälzer mit Rücksicht auf den alten und neuen Außenminister Hans-Dietrich
     Genscher nur noch von »geistig-moralischer Erneuerung«. Aber im Rückblick erscheinen die achtziger Jahre keineswegs als das
     Jahrzehnt, in dem die Konservativen die kulturelle Hegemonie zurückeroberten. Im Gegenteil. Obwohl FDP und Union eine Bundestagswahl
     nach der anderen gewannen, erscheinen die Achtziger paradoxerweise eher als das Jahrzehnt der Grünen und der Gewerkschaften:
     der Grünen, weil sie sich trotz aller internen Grabenkämpfe zwischen Fundis und Realos ihren Platz als vierte politische Kraft
     in der Parteienlandschaft eroberten; der Gewerkschaften, weil die Reallöhne in dieser Dekade so stiegen wie nie zuvor in der
     Geschichte der Bundesrepublik. Außerdem setzten IG Metall und IG Druck und Papier mit wochenlangen Streiks die 3 5-Stundenwoche durch – bei vollem Lohnausgleich. Von Kohls Koalition in den achtziger Jahren blieb in innenpolitischer Hinsicht bis heute
     vor allem das Privatfernsehen übrig, das er seinerzeit gegen den Willen der SPD durchsetzte. Mit der Frage, was Schmuddelsendungen
     wie ›Tutti-Frutti‹, ›Big Brother‹ oder Reality-Soaps und Quasselsendungen in den Nachmittagsprogrammen aber eigentlich mit
     konservativenWerten zu tun haben, kann man freilich heute noch jeden Unionsanhänger in Verlegenheit bringen.
    Schwamm drüber. Am Ende der Achtziger gab es in Deutschland mehr Freizeit, weniger Ideologie, mehr Reiseaktivität ins Ausland,
     weniger Provinzialität. Die Bundesrepublik war dank Kohls außenpolitischer Bemühungen endlich in Europa angekommen; die Freundschaft
     mit Frankreich, die schon Adenauer forcierte, gehört seitdem zur Staatsräson. Die Westdeutschen hätten in diesem gemütlichen
     Kompendium noch ewig weiterleben können – und wollen.
    Die Ostdeutschen aber nicht. Ihren Freiheitswillen hatte kaum jemand auf der Rechnung. Die Wochen nach dem Mauerfall waren
     vor allem geprägt von politischer Konfusion. Was bedeutete das alles? Welche Macht ging in der DDR noch vom Staate aus, wie
     viel Gegenmacht lag auf der Straße? Noch wichtiger: Welche Strategie verfolgten Washington und Moskau, welche Interessen formulierten
     wichtige westliche Verbündete wie Frankreich oder Großbritannien? Dass mit dem Fall der Mauer eine Ära in Deutschland und
     Europa zu Ende ging, schien klar. Aber welche Epoche würde nun beginnen? Und in welchem Ausmaß würde das deutsche Volk selbst
     darüber entscheiden können, wie es weitergeht im eigenen Land? Bei aller Begeisterung in Berlin, allen Freudentränen, die
     im Rest der Republik vor dem Fernseher vergossen wurden, verhielt sich die Politik in den Tagen nach dem 9.   November zunächst noch zurückhaltend. Zwar erhoben sich im Bonner Bundestag nach Bekanntgabe der unglaublichen Ereignisse
     am Brandenburger Tor die meisten Abgeordneten von den Plätzen und sangen die Nationalhymne.
    Doch der Berliner Regierende Bürgermeister Walter Momper (SPD) betonte tags darauf auf einer Kundgebung am Schöneberger Rathaus,
     die Einwohner Berlins hätten gestern Abend »ein Wiedersehen« gefeiert – keine Wiedervereinigung. Dieser Begriff galt vor allem
     linken westdeutschen Politikern noch längereZeit als Unwort – auch weil man Rücksicht auf außenpolitische Ängste nehmen wollte. Denn die Vorstellung, dass mit einem vereinigten
     Deutschland ein schlafender Riese mitten in Europa wiederauferstehen würde, behagte nicht allen Nachbarstaaten und Partnern.
     Der ehemalige polnische Präsident, General Jaruzelski, erinnerte sich noch Jahre später daran, wie er von der britischen Premierministerin
     Margaret Thatcher am Rande eines Staatsbesuchs in der Wendezeit gleich zu Beginn von ihr an die Seite genommen wurde: »Wir
     wollen doch beide kein wiedervereinigtes Deutschland, oder?«
    Sie war nicht die Einzige. Auch der französische Präsident François Mitterrand konnte sich mit der Vorstellung, dass die Bundesrepublik
     sich mitten in Europa bald vom Rhein bis zur Oder-Neiße-Grenze breitmachen würde, zunächst gar nicht

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