Deutschland 2.0
zählen. Der Fall der
Mauer, so der Historiker Heinrich August Winkler, bedeutete für das SE D-Regime das, was der Sturm auf die Bastille 200 Jahre zuvor für das französische Königshaus bedeutet hatte: das Ende ihrer Herrschaft.
Kohl schlug Pflöcke und Wegmarken ein. Die deutsche Einheit sei »nicht mit dem Terminkalender in der Hand« zu planen, sagte
Kohl in aller Vorsicht. Doch er fügte hinzu: »Wie ein wiedervereinigtes Deutschland aussehen wird, weiß heute niemand. Dass
aber die Einheit kommen wird, wenn die Menschen in Deutschland sie wollen, dessen bin ich sicher.«
Damit hatte Kohl klar formuliert, wo er hinwollte. Und genau darin unterschied er sich von der politischen Konkurrenz. Denn
wohin die Sozialdemokraten wollten, wussten sie offenbar selbst nicht. Brandts Enkel, allen voran Oskar Lafontaine, der im
Dezember 1990 als Kanzlerkandidat der SPD gegen Kohl antreten sollte, präsentierten sich vom Fall der Mauer bis zur Vollendung
der staatlichen Einheit am 3. Oktober vor allem als gesamtdeutsche Bedenkenträger. Zu teuer, zu viel, zu schnell – Lafontaines Einwände gegen Kohls Politik,
vor allem gegen die Wirtschafts- und Währungsunion und den auf Pump finanzierten Umtauschkurs von einer Mark West in eine
Mark Ost zum 1. Juli 1990 mögen im Detail auch nicht immer falsch gewesen sein. Dennoch sprach der Rhetoriker Lafontaine lange Zeit komplett
an der euphorischen Stimmung in Deutschland vorbei – und verlor die Wahl.
Noch übler erging es den Grünen. Sie flogen – mit 4,9 Prozent der Wählerstimmen – bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl aus dem Parlament. Nur ihre ostdeutschen Compañeros,
mit denen sie sich zum »Bündnis 90« vereinigt hatten, erhielten in Bonn sieben Parlamentssitze, denn sie waren von der Fünfprozentklausel
freigestellt. Das Desaster beendete den euphorischen Aufbruch des »Neuen Forum« und Dutzender anderer Dissidentengruppen,
die den Herbst 1989 und seine politische Vorgeschichte geprägt hatten. Für die westdeutschen Grünen war es auch die Quittung
des Volkes für ihren Widerwillen gegen die von Kohl geprägte Wiedervereinigung. Damit wollten sie eigentlich nichts zu tun
haben. Ihr Wahlkampf drehte sich im Gründungsjahr des neuen Deutschland konsequenterweise nicht um »Deutschland, einig Vaterland«,
sondern um die »Klimakatastrophe«.
Dass Bärbel Bohley und ihre Mitstreiter in freien Wahlen von der DD R-Bevölkerung wenig Zustimmung bekamen, hatte viele Gründe. In den Dissidentengruppen sammelten sich in den letztenJahren der kleinen deutschen Republik Menschen, die an der DDR litten – also viele Künstler, Pfarrer, Diplomphilosophen, Hunderte
von Spitzeln nicht zu vergessen –, und verständlicherweise auch manche, die an sich selbst litten. Der letzte DD R-Ministerpräsident , Lothar de Maizière von der »Blockflötenpartei« CDU, ein Mann mit guten Verbindungen zum SE D-Machtapparat , hat die Visionen der Bürgerbewegten hämisch, im Großen und Ganzen aber zutreffend so beschrieben: »Sie wollten eine neue
DDR, klein, bescheiden, ökologisch, pazifistisch, himmlischgerecht, also einen kleinen Garten Eden mitten in Europa. Dazu
müssen alle Menschen gut sein und müssen erzogen werden.«
Die DD R-Menschen wollten aber partout nicht mehr erzogen werden, schon gar nicht von Mitbürgern, die nicht selten Jesuslatschen und Nickelbrillen
trugen. Außerdem trauten sie mehrheitlich weder der Ost-SPD noch den Bündnis-9 0-Nachwuchspolitikern zu, hartes Westgeld ins Land zu holen und dort zu halten. Denn nichts verachteten die »Werktätigen« und ihre »leitenden Kader«
gleichermaßen so sehr wie die eigene Währung, die sie zu Recht »Alu-Chips« nannten. Im Sommer und Herbst 1989 warfen sie die
Alu-Chips mit vollen Händen aus den Flüchtlingszügen.
Auch die nächsten acht Jahre gehörten noch Helmut Kohl. Die politische Linke hielt Kohls durch die Wiedervereinigung verlängerte
Regentschaft für verlorene Jahre. Im Sommer 1989 schien Kohl tatsächlich am Ende seiner Herrschaft gewesen zu sein: Die Umfragewerte
für die SPD waren vielversprechend, der Sturz Kohls als Parteichef der CDU und als Kanzler eher eine Frage der Zeit. Tatsächlich
hat Helmut Kohl den Spieß dann umgedreht und sich mit der Einheit politisch wieder aufgerichtet. Seine innerparteilichen Kritiker
um den CD U-Generalsekretär Heiner Geißler, die Gesundheitsministerin Rita Süssmuth oder den
Weitere Kostenlose Bücher