Deutschland 2.0
symptomatisch.
Das muss sich in urdeutschem Interesse so schnell wie möglich ändern. Es spricht nicht viel dafür, dass sich die niedrige
Geburtenquote in Deutschland auf absehbare Zeit erhöhen wird. Den jüngsten Impuls für einen saisonalen Geburtenanstieg gab
denn auch nicht etwa die deutsche Politik, sondern die Nationalelf im Sommermärchen 2006. Doch die Hochstimmung nach dem 4: 2-Sieg gegen Argentinien während der Fußballweltmeisterschaft wird unsere demografischen Probleme nicht lösen. Wir sind aber längst
auf Einwanderung angewiesen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Die Forderung nach einer besseren Schulbildung türkischstämmiger
Kinder und die Bildung einer in Deutschland beheimateten Migranten-Elite sollte die hiesige Politik deshalb nicht dem türkischen
Premier überlassen. Jahrzehnte sind bereits vergeudet worden. Die Konservativen haben die Probleme ignoriert, weil sie nicht
wahrhaben wollten, was faktisch längst geschehen war: Deutschland hatte sich in ein Einwanderungsland verwandelt. Die politische
Linke idealisierte diese Entwicklung, wich den Integrationsproblemen aus – und verlor sich in Debatten über doppelte Staatsbürgerschaften,
die keinem Einwanderer zu besseren Noten verholfen haben.
Die deutsche Sprache bildet die Geschäftsgrundlage der Integration. In mehreren Berliner Problembezirken wollen Grundschulen
künftig Klassen mit »Deutsch-Garantie« anbieten, um Kinder aus Migrantenfamilien stärker zu fördern und gleichzeitig einer
Abwanderung vorzubeugen. Diese Experimente im Klassenzimmer sind aus der Not von Pädagogen und Eltern geboren,die feststellen müssen, dass sich der Graben zwischen Lehrplan und Schülern nicht mehr überbrücken lässt. An ihrem Gelingen
hängt nicht nur die Frage, ob künftig neben den Stefans und Sarahs mehr Sahins und Sedas Abitur machen werden. Sie entscheidet
auch darüber, ob die Bundesrepublik in Zukunft in ethnische Bruchstücke zerfällt oder ob nach dem Zusammenwachsen von Ost
und West das gelingt, was man eine zweite Einheit zwischen Einwanderern und Angestammten nennen könnte. Neben wichtigen außenpolitischen
Entwicklungen wird die Integration von Ausländern in Deutschland und eine an den Interessen der Republik orientierte Einwanderungspolitik
das zentrale innenpolitische Thema der kommenden Jahrzehnte sein.
Wir brauchen vor der Zukunft keine Angst zu haben. Wir werden uns um unsere Zukunft aber künftig sehr viel stärker kümmern
müssen als bisher. Von allein – oder durch die geschickte Regie eines fürsorglichen Staates – wird immer weniger funktionieren.
Um unsere Zukunft zu meistern, braucht es bei allen Beteiligten jene Courage, die letztlich auch zum Fall der Mauer führte.
Bürgerschaftliches Engagement, wie es sich unter anderem in Vereinen wie der »Arche« findet, die gestrandeten Kindern Halt
und Zuversicht gibt, wird immer wichtiger werden. Und zwar nicht, um philantropischen Gefühlen einen Zielpunkt zu geben, sondern
weil wir es uns nicht leisten können, dass die Bürgergesellschaft einen Teil ihrer Mitglieder in der Ecke stehen lässt. Diese
Eckensteher werden es sich auf Dauer nämlich nicht gefallen lassen, dass man sie ignoriert oder abhängt. Inzwischen werden
Kinder in der Bundesrepublik einerseits in Armutsdynastien und auf der anderen Seite in Reichtum hineingeboren. Arm und Reich
gab es zwar immer. Die Frage ist, ob bei der Geburt schon feststeht, ob es jemand schaffen kann in Deutschland oder nicht.
Chancengleichheit darf man nicht nur in Reden beschwören, man muss von Generation zu Generation überprüfen, ob es sie noch
gibt. Dass in Deutschland eine neue Klassenfragein den nächsten Jahrzehnten aktuell und brennend werden wird, müssen wir leider annehmen.
Vor zwanzig Jahren brach sich in der DDR ein Bürgermut Bahn, der den real existierenden Fatalismus in Frage stellte und danach
friedlich überwand. Die Ostdeutschen sagten laut und deutlich, was sie wollten – und nahmen dabei weder Rücksicht auf die
herrschende Klasse in der DDR noch auf den westdeutschen Status quo. Auch heute ist diese Wahrhaftigkeit gefragt. Wie sich
Deutschland entwickelt, darf nicht von anarchischen Zeitläufen, zufälligen Geburtsentwicklungen oder wechselnden Regierungen
abhängen. Wir müssen klären, wie wir leben wollen – und wie nicht. Immer wieder, nicht nur alle zwanzig Jahre.
Zum Weiterlesen
›Der lange Weg nach Westen‹, Heinrich August
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