Deutschland allein zu Haus
die kleine Selma ein bisschen Lärm gemacht hat, haben die also gekniffen …«
»Nicht nur unsere Selma«, sagt ihre Mutter Fadimanim, »die Hälfte der Passagiere im Flugzeug hat tierisch randaliert, weil sie nicht abgeschoben werden wollte.«
»Dann hat sich das mit den Zwangsabschiebungen also erledigt«, stelle ich grinsend fest.
»Leider nicht ganz«, meint Ahmet, »die haben unsere Pässe behalten und werden uns sobald wie möglich mit dem Zug abtransportieren.«
Plötzlich tritt eine sehr unangenehme Stille ein, die fast wehtut!
Niemand wagt, etwas zu sagen.
Außer mir – obwohl das, was ich sage, im Grunde genommen auch nicht so richtig aufbauend ist:
»Leute, die Moral von der Geschichte ist doch: dass jede Familie eine kleine, freche, laut randalierende Tochter haben sollte! Die Nazis kochen nämlich auch nur mit Wasser!«
»Ich glaube, die kochen gar nicht«, meint Eminanim, »Kochen ist doch ein Zeichen von Zivilisation!«
27 Am nächsten Tag jagt mich die zweitgrößte Nervensäge des Mittleren Orients mitten in der Nacht aus dem Haus, um Onkel Ömer mit frischen Brötchen zu beglücken.
Es ist noch stockdunkel draußen, wir haben gerade mal 5 Minuten nach 6 und es ist so bitterkalt, dass mein ohnehin noch nicht ganz erwachtes Hirn auf der Stelle fast einfriert. Und zu so ungemütlicher Stunde schickt mich meine gnadenlose Frau Eminanim raus, nur um ein paar dämliche Brötchen zu holen.
Na ja, ich kann ja bei der Gelegenheit wieder mal gucken, ob der Opa noch am Fenster sitzt.
Ich bin unrasiert, habe völlig zerzauste Haare und im Spiegel habe ich mich über mein ungewaschenes Mafiagesicht selber zu Tode erschrocken. Die arme Bäckereiverkäuferin tut mir jetzt schon leid, sie wird wahrscheinlich schreiend davonlaufen.
Zum Glück ist kein Mensch außer mir auf der Straße. Dafür muss man ja auch entweder nicht ganz dicht im Kopf sein oder mehr oder weniger lebensmüde oder lange genug verheiratet; so wie diese Oma mit ihren Plastiktüten direkt vor mir!
Wo kommt die denn jetzt plötzlich her?
Bei Allah, wie kann man denn mitten in der Nacht so eine arme alte Frau vor die Tür setzen? Haben die Menschen heutzutage gar kein Mitleid mehr? Bin ich das allerletzte Lebewesen auf dieser Welt, das noch einen Funken Menschlichkeit in seinem Herzen bewahrt hat und vor dem man sich nicht zu fürchten braucht?
Abgesehen natürlich von dieser flotten Oma vor mir. Seitdem sie mich entdeckt hat, wird sie immer schneller und schneller! Sie ist genauso schnell wie ich.
Für Außenstehende sieht diese unglückliche Situation jetzt bestimmt so aus, als wenn ich eine alte arme Frau gnadenlos durch die Stadt jagen würde, um ihr die Tasche zu klauen. Zum Beispiel für unseren Opa am Fenster. Zum ersten Mal bekommt der alte Mann um diese Zeit was Spannendes geboten. Bei ihm bin ich jetzt garantiert für immer unten durch! Hoffentlich ruft er nicht sofort die Bullen an! Wenn das in der heutigen Zeit kein Ausweisungsgrund ist, dann weiß ich auch nicht!
Die Oma rennt inzwischen noch schneller und alle paar Schritte schaut sie panisch nach hinten.
Aber ich kann doch bei diesem Mistwetter nicht einfach auf der Straße stehen bleiben, nur damit die arme Frau sich wieder beruhigt. Erstens friere ich wie verrückt, zweitens hab ich überhaupt keine Zeit! Nach dem Frühstück muss ich gleich in Halle 4 antanzen.
Aber leider bin ich so früh am Morgen auch nicht schnell genug, um diese flinke Oma zu überholen.
Das alte Mädchen läuft heute wahrscheinlich den Marathon seines Lebens. Was ich ihr nicht mal übel nehmen kann, so scheußlich unrasiert wie ich momentan aussehe. Womit ich nicht unbedingt behaupten will, dass ich sonst besser aussehe.
Aber an normalen Tagen, wenn es nicht so kalt ist und nicht ganz so früh und ich nicht so hetzen muss, dann laufen die Omas nicht sofort scharenweise um ihr Leben, sobald sie mich erblickt haben.
In meiner Verzweiflung bleibt mir nichts anderes übrig, als sie anzusprechen:
»Jetzt laufen Sie doch nicht weg, gnädige Frau, ich tue Ihnen schon nichts«, rufe ich mit der bestmöglichen Engelsstimme, die ich hinkriege.
Aber der eisige Wind klatscht mir meine Wörter wieder zurück ins Gesicht und die ältere Dame wird durch meinen Zuruf sogar noch schneller.
Es ist aber auch gut möglich, dass ich im Gegenzug langsamer werde. Diese gute alte Frau hat ganz offensichtlich mehr Kondition als ich. Dabei muss man natürlich bedenken, sie rennt um ihr Leben, ich latsche
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