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Deutschland allein zu Haus

Deutschland allein zu Haus

Titel: Deutschland allein zu Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Osman Engin
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steht mein Onkel Ömer meiner Frau bei. »Warum schreiben die dann nicht gleich › ab 18.00 Uhr‹? Dieses ›ab‹ finde ich nämlich sehr praktisch. Die ganzen Kaufhäuser praktizieren in Deutschland diesen Trick. Die schreiben ganz groß ›Hemden ab 20 Euro‹, aber wenn ich mir dann ein schickes aussuche, kostet es plötzlich 79,99 Euro!«
    »Onkel Ömer, das nennt man Verkaufsstrategie! Aber diese deutsche Pünktlichkeit war das Erste, was ich hier an deutscher Leitkultur gelernt habe. Mein Kumpel Abdullah-Ibrahim, der ein paar Jahre früher als ich hier war, klärtemich bei meiner Ankunft sofort auf: ›Osman, wenn du in Deutschland um 11 Uhr einen Termin hast, dann musst du auch um 11 Uhr da sein. Wenn du um 15 Uhr dort eintrudelst, gilt das hierzulande seltsamerweise schon als Verspätung!‹«
    »Mein Gott, wann kommt denn dieser Zug endlich!«, schimpft Eminanim sichtlich genervt, die wohl keine so große Lust auf meine alten Gastarbeiter-Geschichten hat.
    »Ich hätte mit Hatice so schön noch eine halbe Stunde länger fernsehen können«, stimmt ihr Onkel Ömer zu.
    »Vielleicht sogar zwei!«, schüttet meine Frau noch mehr Salz in unsere klaffende Wunde. »Es ist bereits 18.52 Uhr und er ist immer noch nicht da!«
    Um 19.03 Uhr auch nicht!
    Es kommen und fahren schon viele Züge, aber keiner davon will nach Hamburg.
    Um 20.03 Uhr steht auf der Anzeigetafel, dass wir die Fahrt nach Hamburg für heute vergessen sollen!
    »Wie? Was soll denn das? Man kann doch nicht einfach die ganze Fahrt abschaffen! Ist das Ding nach Somalia entführt worden, oder was?«, reklamiere ich verwirrt.
    »So originelle Ausreden lassen wir uns nur selten einfallen«, schaut der Mensch mit der Bahnmütze grimmig. »Wir haben genügend andere Ausreden zur Auswahl, die viel glaubwürdiger klingen. Zum Beispiel: Die Strecke wird gerade repariert … alle Weichen sind eingefroren … Kühe auf dem Bahngleis … das Wetter spielt verrückt … die Gewerkschaft der Zugführer streikt … die ausländischen Mitarbeiter hauen ab! Aber das mit der Entführung nach Somalia sollten wir uns merken …«
    »Das mit den abhauenden ausländischen Mitarbeitern finde ich aber nicht sehr glaubhaft«, mischt sich Nermin ein.»Eigentlich müssten doch gerade jetzt die großen deutschen Tugenden wie Pünktlichkeit ausbrechen, wo die Migranten dem Land baybay gesagt haben!«
    »Wenn fast das gesamte Servicepersonal und dazu alle Schienenwärter fehlen, dann ist das so ziemlich der falscheste Zeitpunkt, die deutsche Pünktlichkeit zu demonstrieren. Wir wären froh, wenn wir die Hälfte des Fahrplans einhalten könnten. Abgesehen davon verreist sowieso kein Mensch mehr. Es liegt ein regelrechter Schleier über dem Land!«
    »Deutschland, Deutschland, üübaa aaaa-aalles, üüba aaa-lles«, torkelt in dem Moment eine grölende Gruppe schwarz gekleideter Chaoten die Treppen hoch zu Gleis 6.
    »Abgesehen von solchen Idioten selbstverständlich!«, fügt der Bahnmitarbeiter sichtlich genervt hinzu.
    »Auf Ihr bescheuertes Hitler-Bärtchen wollten Sie aber trotzdem nicht verzichten«, stichelt Nermin völlig unnötig und, wie ich finde, ganz schön mutig.
    »Das stimmt, dieses bescheuerte Bärtchen gehört gewissermaßen seit Kurzem zu meiner Uniform dazu«, erwidert er diplomatisch, »sonst muss ich noch bescheuerteren Fragen Rede und Antwort stehen! Ihrem Vater würde ich so ein Bärtchen auch empfehlen. In der heutigen Zeit erspart es viel unnötigen Ärger!«
    »Ey, da sind ja Kanaken! Machen wir sie platt!«, brüllt einer auf Gleis 6 in unsere Richtung.
    »Sag ich doch«, meint das staatliche Hitler-Bärtchen.
    Ich bin unheimlich froh, dass mehrere wuchtige Gleise zwischen uns liegen.
    »Osman, was brüllt der Glatzkopf in unsere Richtung?«, fragt mein Onkel etwas irritiert.
    »Er fragt, wie spät es ist!«, lüge ich ganz gut auf die Schnelle.
    »Ist der Kerl blind? Sieht er diese riesige Bahnhofsuhr hier etwa nicht?« So gut war meine Lüge wohl doch nicht …
    »Die Skins können die Uhr nicht lesen. Deswegen heißen die ja Skins!«
    »Weil sie die Uhr nicht lesen können, rasiert man denen die Köpfe?«
    »Ja. Bereits in der Schule werden die Kinder in zwei Gruppen unterteilt. Die die Uhr nicht lesen können, werden Skins, die anderen werden Schüler«, sage ich und frage danach vorsichtshalber den Bahnmitarbeiter mit leichtem Muffensausen:
    »Halten die Skins sich denn wirklich an dieses Verbot hier?«, und deute dabei mit dem Kopf auf das

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