Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
Patienten zu beschützen. Von einer ärztlichen Verpflichtung, Misshandler vor Strafverfolgung zu bewahren, ist dagegen im Gesetzbuch nichts zu lesen.
Engagierte Kinderschützer beklagen häufig, dass mit dem aktuellen Bundeskinderschutzgesetz von 2012 die Rechte der Kinder nicht entschiedener gestärkt worden seien. Diese Kritik ist in vielen Punkten berechtigt. Aber selbst das als »zahnlos« verschriene neue Gesetz legt glasklar fest, dass Kinderärzte bei konkretem Verdacht auf Kindesmisshandlung (»rechtfertigender Notstand«) ihre Schweigepflicht durchbrechen dürfen.
Die Ärzte sollen nach Abwägung der individuellen Umstände entscheiden, wen sie zum Besten des Misshandlungsopfers informieren. Das Kinderschutzgesetz listet sogar die möglichen Adressaten im Einzelnen auf. Zur Auswahl stehen
die Ermittlungsbehörden (Polizei und Staatsanwaltschaft),
das Jugendamt,
Großeltern oder andere Verwandte des Opfers, die im konkreten Fall als Helfer angesehen werden können,
außerstaatliche Hilfsorganisationen (kirchliche oder private Träger),
Einzelpersonen, zu denen das Opfer Vertrauen hat oder die Einfluss auf die elterlichen Misshandler besitzen, beispielsweise ein Pfarrer, eine Patentante oder ein Sozialarbeiter, etwa aus dem Kinder- und Jugendzentrum.
Die Bedingungen, unter denen Ärzte die Schweigepflicht durchbrechen dürfen oder sogar sollten, sind also keineswegs kompliziert oder widersprüchlich. Unangenehme Konsequenzen brauchen Ärzte, die sich nach gewissenhafter Abwägung auf den »rechtfertigenden Notstand« berufen, nicht zu befürchten: Verstöße gegen die Schweigepflicht werden ohnehin
»nur auf Antrag verfolgt«
(§ 205 St GB ) – und diesen Antrag müsste schon der »Geschädigte« selbst stellen, also das Misshandlungsopfer, zu dessen Schutz der Arzt aktiv geworden ist.
Doch obwohl der Gesetzgeber für die nötige Rechtssicherheit gesorgt hat, greifen Kinder- und Jugendärzte bei Verdacht auf Kindesmisshandlung nach wie vor nur sehr selten ein. Dieses beharrliche Wegschauen mag sich zum einen mit der Tradition der Verleugnung erklären, die wir in Kapitel 2 nachgezeichnet haben. Zum Zweiten fehlt es vielen Ärzten an rechtsmedizinischen Kenntnissen – und das, obwohl Informationsschriften und Fortbildungsangebote inzwischen reichlich verfügbar sind.
Last but not least dürften es schlicht ökonomische Erwägungen sein, die viele Ärzte zum konsequenten Wegschauen bewegen: Nicht nur Kinderärzte in Brennpunktvierteln müssten wohl mangels Nachfrage ihre Praxen schließen, wenn sich herumsprechen würde, dass sie Misshandlungsfälle bei den Behörden melden.
Für die Kinder macht es keinen Unterschied, aus welchen persönlichen Gründen der Arzt seine Augen vor ihrem Leid verschließt: Anstatt die Misshandelten zu beschützen, macht er sich zum Komplizen der Misshandler.
In den Augen vieler Kinderschützer gibt es jedoch einen so einfachen wie effektiven Ausweg aus dem Dilemma: eine gesetzliche Meldepflicht.
Gesetzliche Meldepflicht einführen?
In den Vereinigten Staaten, aber auch in Österreich sind Ärzte seit vielen Jahren verpflichtet, bei Verdacht auf Misshandlung Anzeige zu erstatten. Eine solche Regelung hat drei gewichtige Vorteile, zumindest auf den ersten Blick:
Bei gesetzlicher Meldepflicht darf kein Arzt seine Augen vor dem Leid seiner kleinen Patienten verschließen und diese einfach wieder ihren Peinigern ausliefern.
Die Misshandler finden schlichtweg keinen Arzt mehr, der ihr finsteres Geheimnis für sich behält.
Daher müssen die Ärzte auch ihrerseits nicht befürchten, ihre ökonomische Basis zu untergraben, wenn sie Misshandlungsfälle bei den Behörden melden.
Doch die gesetzliche Meldepflicht hat einen Nachteil, der letztlich schwerer als ihre Vorzüge wiegt: Viele Misshandler werden ihre verletzten Opfer nicht mehr – oder zumindest viel zu spät – zum Arzt bringen, wenn sie mit einer Meldung bei den Ermittlungsbehörden rechnen müssen.
Die Erfahrungen in Österreich zeigen, dass die gesetzliche Meldepflicht bei Kindesmisshandlungsfällen ein zweischneidiges Schwert ist. In unserem Nachbarland trat 1984 ein Gesetz in Kraft, das den Ärzten eine strenge Anzeigepflicht auferlegte. Dabei stand das Straf- und Abschreckungsinteresse des Staates im Vordergrund: Die Ärzte wurden verpflichtet, bereits geschehene, in der Vergangenheit liegende Körperverletzungsdelikte unverzüglich anzuzeigen.
1998 wurde die Meldepflicht durch eine Gesetzesreform
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