Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
und berufsständische Gebot ihnen untersage, sich bei Verdacht auf Kindesmisshandlung an die Behörden zu wenden. Doch das trifft keineswegs zu.
Jenseits der Schweigepflicht
Die ärztliche Schweigepflicht ist unstrittig ein hochwertiges Rechtsgut. Sie bildet eine wesentliche Grundlage für das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. Nur wenn Patienten sich darauf verlassen können, dass der Arzt ihre Geheimnisse für sich behält, werden sie ihm alles anvertrauen, was für den Heilungserfolg erforderlich ist.
Mit guten Gründen ist daher die ärztliche Schweigepflicht sowohl im Strafrecht als auch im ärztlichen Standesrecht verankert. Ein Verstoß
»wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft«
(§ 203 St GB ).
Kein Arzt wird also leichtfertig seine Schweigepflicht durchbrechen: Dadurch würde er sich nicht nur strafbar machen, sondern auch seine Approbation aufs Spiel setzen.
Doch Gründe, die den Arzt im konkreten Einzelfall von seiner Schweigepflicht befreien, sind im deutschen Strafrecht ausdrücklich vorgesehen. Juristen sprechen in diesem Zusammenhang von einem »höherwertigen Rechtsgut«. Die Abwendung einer Gefahr für Leib und Leben ist ein solches höherwertiges Rechtsgut – und zwar auch dann, wenn nicht die eigene Gesundheit, sondern die eines Dritten auf dem Spiel steht. Das gilt umso mehr, wenn es sich bei diesem Dritten um ein hilfloses Kind handelt.
Entsprechend bestimmt § 9 des ärztlichen Standesrechtes (Muster-Berufsordnung für Ärzte in der Fassung von 2011 ):
»Ärztinnen und Ärzte sind zur Offenbarung befugt, soweit sie von der Schweigepflicht entbunden worden sind oder soweit die Offenbarung zum Schutz eines höherwertigen Rechtsgutes erforderlich ist.«
Bei einem konkreten Verdacht auf Kindesmisshandlung besteht stets Wiederholungsgefahr, solange sich das Opfer in der Gewalt der Täter befindet. Deshalb sind Ärzte in solchen Fällen auch stets berechtigt, ihre Schweigepflicht zu durchbrechen: Nur so können sie das Kindeswohl als das höherwertige Rechtsgut schützen. Dabei handeln sie im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshof ( BGH ): Wenn
»in der Zukunft Gefahr besteht für ein Rechtsgut von hohem Rang«,
so auch der BGH , dürften Ärzte gegen ihre Schweigepflicht verstoßen (
Kindesmisshandlung,
S. 233 ).
Der Arzt bleibt somit an die Schweigepflicht gebunden, wenn ein Patient ihm anvertraut, dass er in der
Vergangenheit
ein Gewaltverbrechen verübt habe. Sofern aus Sicht des Arztes keine akute Wiederholungsgefahr besteht, darf er sein Wissen nicht offenbaren. Akute Wiederholungsgefahr besteht aber durchweg bei Serientätern, seien es Mörder, Vergewaltiger – oder ihre leider mit Abstand häufigste Erscheinungsform: die Kindesmisshandler.
Bekommt ein Arzt Kenntnis von einem solchen Gewaltdelikt mit Wiederholungsgefahr, dann ist er zwar nicht verpflichtet, Meldung zu erstatten; jedoch muss er damit rechnen, dass seine ärztlichen Unterlagen von den Ermittlungsbehörden beschlagnahmt werden – ein weiterer deutlicher Hinweis, dass der Schutz des Kindes hier das höherwertige Rechtsgut ist.
Ganz auf der sicheren Seite sind Ärzte immer dann, wenn der Patient selbst es ist, der sie von der Schweigepflicht befreit. Bei Säuglingen und Kleinkindern kommt das aus naheliegenden Gründen nicht in Betracht. Aber auch von älteren Kindern und von Jugendlichen ist eine solche Befreiung oftmals nicht zu erlangen.
Misshandler schüchtern ihre Opfer fast immer zusätzlich durch Drohungen ein: »Wenn du irgendjemandem etwas verrätst, schlage ich dich tot.« Ohnehin ist das Selbstwertgefühl chronisch misshandelter Kinder und Jugendlicher meist genauso verwundet wie ihre Körper. Ihnen fehlen vielfach die innere Kraft und das nötige Vertrauen in potenzielle Helfer, um sich von ihren gewalttätigen Beziehungspersonen zu lösen. Oftmals weigern sie sich daher, den Arzt von der Schweigepflicht zu entbinden – oder der Arzt verzichtet von sich aus darauf, das jugendliche Misshandlungsopfer in einen solchen Zwiespalt zu stürzen.
Doch selbst in solchen Fällen darf er sein Wissen offenbaren, um konkrete Gefahr von seinem Patienten abzuwenden. Hierbei kann er sich auf § 34 St GB berufen, den »rechtfertigenden Notstand«.
Ärzte, und insbesondere Kinder- und Jugendärzte, haben ihren Patienten gegenüber eine »Garantenstellung«, wie es im Fachjargon heißt. Anders gesagt: Sie sind in besonderem Maße verpflichtet, ihre
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