Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
weitgehend aufgeweicht. Ausdrücklich war den Ärzten nun erlaubt, von einer Anzeige abzusehen, wenn durch diese ein persönliches Vertrauensverhältnis beeinträchtigt würde.
Nur drei Jahre später trat eine zweite Reform des österreichischen Ärztegesetzes in Kraft. Nach dieser bis heute gültigen Fassung sind die österreichischen Ärzte doch wieder grundsätzlich zur Anzeige verpflichtet:
»Ergibt sich für den Arzt in Ausübung seines Berufes der Verdacht, dass durch eine gerichtlich strafbare Handlung der Tod oder eine schwere Körperverletzung herbeigeführt wurde, so hat der Arzt, sofern Abs.
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nichts anderes bestimmt, der Sicherheitsbehörde unverzüglich Anzeige zu erstatten. Gleiches gilt im Fall des Verdachts, dass eine volljährige Person, die ihre Interessen nicht selbst wahrzunehmen vermag, misshandelt, gequält, vernachlässigt oder sexuell missbraucht worden ist.«
(§ 54 , Abs. 4 Österr. Ärztegesetz)
Diese Verpflichtung zur unverzüglichen Anzeige gilt aber ausdrücklich nicht bei Verdacht auf Kindesmisshandlung durch Familienangehörige:
»Ergibt sich für den Arzt in Ausübung seines Berufes der Verdacht, dass ein Minderjähriger misshandelt, gequält, vernachlässigt oder sexuell missbraucht worden ist, so hat der Arzt Anzeige an die Sicherheitsbehörde zu erstatten. Richtet sich der Verdacht gegen einen nahen Angehörigen (§ 166 StGB), so kann die Anzeige so lange unterbleiben, als dies das Wohl des Minderjährigen erfordert und eine Zusammenarbeit mit dem Jugendwohlfahrtsträger und gegebenenfalls eine Einbeziehung einer Kinderschutzeinrichtung an einer Krankenanstalt erfolgt.«
(§ 54 , Abs. 5 Österr. Ärztegesetz)
Mehr als 90 Prozent aller Kindesmisshandlungsdelikte werden durch »nahe Angehörige« verübt. Seit dieser zweiten Gesetzesreform sind österreichische Ärzte also nur noch in seltenen Ausnahmefällen verpflichtet, bei Verdacht auf Kindesmisshandlung »unverzüglich« Anzeige zu erstatten. Im Regelfall ist die Anzeigepflicht in eine unbestimmte Zukunft verschoben, in der die Meldung das »Wohl des Minderjährigen« nicht mehr gefährden kann.
Der österreichische Gesetzgeber zieht damit die Konsequenzen aus überwiegend negativen Erfahrungen mit einer rigiden Meldepflicht. An ihre Stelle ist seit 2001 die Verpflichtung der Ärzte getreten, bei Verdacht auf Kindesmisshandlung mit dem »Jugendwohlfahrtsträger« und gegebenenfalls mit »einer Kinderschutzeinrichtung an einer Krankenanstalt« zusammenzuarbeiten. Nach deutschem Sprachgebrauch entspricht dies dem Jugendamt und der Kinderschutzgruppe in der Klinik, die das misshandelte Kind aufgenommen hat.
Somit hebt das Gesetz die ärztliche Meldepflicht bei Verdacht auf Kindesmisshandlung weitgehend auf und ersetzt sie durch eine Reaktionspflicht – die Verpflichtung, zum »Wohl des Minderjährigen« angemessen zu reagieren.
Für eine gesetzliche Reaktionspflicht
Eine solche Reaktionspflicht der Ärzte muss auch in Deutschland umgehend eingeführt werden. Derzeit bieten das Bundeskinderschutzgesetz und das Berliner Gesetz zum Schutz und Wohl des Kindes nur windelweiche Formulierungen. Dort heißt es in § 11 :
»Werden Personen, die einer Schweige- oder Geheimhaltungspflicht (…) unterliegen, gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt (…) ist auf die Inanspruchnahme geeigneter Hilfen hinzuwirken (…)«
Stattdessen müssen die Kinder- und Jugendärzte von Gesetzes wegen verpflichtet werden, bei jedem konkreten Verdachtsfall mit einer Kinderschutzgruppe (falls in der Klinik vorhanden) zusammenzuarbeiten. Wird dem Arzt ein Kind mit verdächtigen Verletzungen unklarer Herkunft vorgeführt, dann muss er das potenzielle Misshandlungsopfer in die Klinik überweisen. Der dortigen Kinderschutzgruppe gehören meist auch Rechtsmediziner oder zumindest forensisch geschulte Fachkräfte an. Diese können im nächsten Schritt abklären, ob das Kind tatsächlich misshandelt worden ist.
Den Familienangehörigen braucht der Arzt seinen Verdacht nicht einmal zu offenbaren. Weist das Kind etwa verdächtige Blutergüsse auf, kann er ihnen erklären: »Diese vielen Hämatome – das sieht für mich nach einer Blutgerinnungsstörung aus. Das müssen wir unbedingt in der Klinik abklären.«
Die Angehörigen können einem solchen Vorschlag nicht gut widersprechen, ohne zumindest als »Rabeneltern« dazustehen. Und der Arzt wird in ihren Augen nicht zum »Verräter«,
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