Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
den Nerven fertig. Sein Kurierunternehmen ist pleite. Lukas verfolgt ihn bis in seine Träume, und immer sieht Toms Sohn unzufrieden aus. Vorwurfsvoll, unglücklich, das kleine Gesicht verzerrt vor Kummer oder Schmerz.
Längst hat Tom herausgefunden, wovor er sich damals gefürchtet hat. Er hat Angst vor der Ungeduld und der Wut, die er in sich aufsteigen fühlt, wenn sich Lukas einfach nicht beruhigen lässt. Angst, dass er Lukas anbrüllen, einschüchtern, schlagen könnte, wie er es bei seinem eigenen Vater erlebt hat.
Einmal ist ihm das schon passiert. Er hat den Kleinen in die Seite geboxt, und Lukas hat einen hässlichen blauen Fleck bekommen. »Er muss auf irgendetwas Hartem gelegen haben«, hat er zu Simone gesagt.
Weiterhin vertraut er seine Angst und sein Unbehagen niemandem an. Simone fällt auf, dass er jetzt meistens bedrückt ist. Aber sie schiebt es auf das Scheitern seiner Kurieragentur und auf den ewigen Schlafmangel.
An einem Morgen, als Simone schon zur Arbeit gegangen ist, holt Tom den Säugling zu sich ins Ehebett. Wieder haben sie eine albtraumhafte Nacht hinter sich. Lukas hat höchstens zwei Stunden geschlafen, Tom noch weniger. Aber im Gegensatz zu ihm hat Lukas immer noch jede Menge Energie. Und die nutzt er, wie immer, zum Schreien.
Tom liegt neben dem Baby, jeden Muskel angespannt. Er halluziniert fast, so übermüdet und gestresst ist er. Er hat Visionen von sich selbst, wie er seinen kleinen Sohn anbrüllt und ihm heftig ins Gesicht schlägt. »Gib endlich Ruhe!«, schreit er in Gedanken, so wie sein Vater ihn immer angeschrien hat. Kurz bevor er angefangen hat, ihn zu verprügeln.
Das werde ich nicht tun!, beschwört sich Tom. Lukas schreit und schreit, und schließlich hält Tom es nicht mehr aus. Er dreht sich zu Lukas, packt ihn um den Brustkorb und schüttelt ihn wild hin und her. »Hör auf! Hör doch auf!«, schreit er und meint sich selbst mehr noch als Lukas, der wie eine kaputte Puppe an Kopf und Gliedern schlackert.
Und dann plötzlich ist Lukas totenstill.
Zwei Stunden danach trifft Tom mit Lukas in der Unfallklinik ein. Auf die Ärzte in der Notaufnahme macht er einen vollkommen verstörten Eindruck.
»Lukas hatte wieder einen stundenlangen Schreianfall«, erklärt Tom. »Er war schon ganz blau im Gesicht, und dann plötzlich hat er Krämpfe und Zuckungen bekommen. Ich habe ihn aus seinem Bettchen genommen, und zuerst dachte ich, dass er sich wieder beruhigt hätte. Bis ich gemerkt habe, dass er ganz schlaff in meinem Arm hing. Wie eine Puppe!«
Schlaff und reglos liegt Lukas nun vor den Ärzten auf dem Untersuchungstisch. Seine Augen sind weit offen, die Pupillen reagieren nicht mehr auf Licht. Atem und Herzschlag sind unregelmäßig und stark herabgesetzt.
Lukas spricht nicht mehr auf äußere Reize an. Er wird sofort auf die Kinderintensivstation gebracht und an die lebenserhaltenden Apparate angeschlossen. Bei der Computertomographie zeigen sich großflächige subdurale Hämatome. Sein Gehirn ist bereits irreversibel schwerstgeschädigt. Lukas Helmholtz, viereinhalb Monate alt, wird das Bewusstsein nie mehr erlangen.
Aber er wird leben. Noch 15 Jahre lang.
»Ich habe sofort gespürt, dass das nicht mehr gut werden würde«, vertraut Tom Helmholtz Monate später der Kinderärztin an.
Dr. Sandra Liebert hat Lukas von seiner ersten Lebenswoche an medizinisch betreut. Ein Schreikind und ein junger, unerfahrener Vater, das war auch in ihren Augen nicht gerade eine Traumkombination. Lukas wuchs langsamer als der Durchschnitt und legte noch langsamer an Gewicht zu. Aber er war organisch gesund, und Tom Helmholtz brachte ihn pünktlich zu jeder Untersuchung.
Irgendwann in Lukas drittem Lebensmonat fiel Dr. Liebert auf, dass Tom Helmholtz Körperkontakt und Kommunikation mit seinem Sohn auf das Nötigste beschränkte. Aber sie dachte sich nichts weiter dabei. Das große Hämatom, das sie ein paar Wochen vorher bei dem Säugling gesehen hatte, brachte sie mit der Verhaltensänderung des Vaters nicht in Zusammenhang. Tom Helmholtz war eben chronisch übernächtigt und mit den Nerven herunter. Und für den blauen Fleck gab es ja eine harmlose Erklärung.
Von gestörten Eltern-Kind-Beziehungen hat Dr. Liebert in Fachzeitschriften hin und wieder gelesen. Aber meistens überblättert sie derlei Artikel. Sie hält wenig von »diesem psychologischen Brimborium«. Kinder brauchen angemessene Nahrung und Kleidung, Hygiene und klare Regeln. Alles andere ist
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