Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen
das auf mehr Teilhabe- und Verwirklichungschancen setzt, muss nicht notwendig als Forderung nach mehr Umverteilung interpretiert werden, denn diese kann auch zu Passivierung führen und das Gegenteil bewirken. Die beste Chancenmehrung findet daher durch Aktivierung jedes einzelnen Menschen und seiner Kräfte statt. Wer Amartya Sens Armutsbegriff umfassend interpretiert, müsste eine Armutsstrategie, die im Wesentlichen auf Umverteilung materieller Güter zielt, eigentlich als unzureichend - nämlich als nicht nachhaltig - empfinden.
Auswirkungen auf das Individuum
Sozialer Rang und soziale Exklusion
Für gewöhnlich haben Menschen den Wunsch, sich ihrer Umwelt anzupassen, sich so zu kleiden, wie sich alle kleiden, das zu besitzen, was alle besitzen, und das zu tun, was alle tun. Aus diesem Grund
sind weder die Kleidungs- noch die Wohnstandards eines indischen Slums in Deutschland angemessen. Das Konzept des soziokulturellen Existenzminimums, auf dem Sozialhilfe und Grundsicherung in Deutschland aufbauen, trägt dem grundsätzlich Rechnung. Sobald die Wohnung ausreichend belichtet und geheizt ist, die sanitären Verhältnisse und die Kleidung ordentlich sind und genügend Geld für eine ausgewogene Ernährung bleibt - sobald also die physischen Grundbedürfnisse ausreichend abgedeckt sind -, ist allerdings letztlich der gesamte materielle Konsum mit Fragen der sozialen Interaktion und des sozialen Ranges vermischt und von diesen gar nicht zu trennen. Darum ist dort, wo von Armut und Ungleichheit geredet wird, der Neid niemals fern.
Neid entsteht, wenn unser Bedürfnis nach sozialem Rang nicht in einer Weise befriedigt wird, die wir für adäquat halten. Positiver Neid - »Das kann ich auch!« - ist ein wesentlicher Antrieb für Tatkraft und Ehrgeiz. Negativer Neid - »Wieso der und nicht ich?« - ist in der Tendenz destruktiv. Er führt das Individuum meistens in eine Sackgasse und kann sogar die Gesellschaft beschädigen, wenn er überhandnimmt. Wenn wir ständig mit dem Unvergleichlichen vergleichen, dann beschädigen wir den Antrieb, der sich aus positivem Neid ergeben kann, und führen fruchtlose Debatten darüber, ob andere das verdienen, was sie verdienen. 12
Jeder Mensch sucht die Wertschätzung von außen, zieht aus ihr Lebenssinn und sucht in ihr ein Stück seiner Identität. Je weniger ein Mensch darauf vertraut, dass ihm seine persönlichen Eigenschaften, seine Fähigkeiten und Leistungen ein ausreichendes Maß an Wertschätzung verschaffen, umso wichtiger werden der materielle Konsum und die ganze Fülle materieller Möglichkeiten. Entscheidend für seine materiellen Wünsche ist das materielle Niveau seiner sozialen Bezugsgruppe: Ein Empfänger von Arbeitslosengeld II mag sich grämen, wenn sein Nachbar den größeren Flachbildschirm hat, und ein Investmentbanker ist verstimmt, wenn sein Bonus nur für einen Audi TT reicht, während sein Kollege einen Porsche Carrera dafür kaufen kann. In beiden Autos kann man komfortabel fahren - wenn auch im einen etwas schneller. Auf beiden Bildschirmen kann man
das Programm wunderbar verfolgen - auf dem einen ist eben alles nur etwas größer. Immerhin kann der Banker mit dem Porsche-Bonus sich einbilden, sein höherer Bonus habe etwas mit seiner - besseren - Leistung zu tun, und daraus seine Befriedigung ziehen. Diese Befriedigung bleibt dem Transferleistungsempfänger mit dem größeren Bildschirm verschlossen - und das zeigt die Grenzen jeder Bemühung, über die Höhe der Sozialtransfers zur Lösung von Fragen des sozialen Rangs beizutragen.
Letztlich geschieht sogar das Gegenteil: Neue Probleme tun sich auf. Je mehr sich die Transferleistungen nämlich dem unteren Bereich der durch Arbeit erzielten Einkommen annähern, desto mehr sieht der Arbeitende seine Leistung entwertet und sich in seinem sozialen Rang abgestuft. Das Lohnabstandsgebot hat nicht nur die Aufgabe, die Arbeitsanreize für die Empfänger von Transferleistungen ausreichend hoch zu halten, es ist auch eine wichtige Voraussetzung für den Stolz der Arbeitenden auf ihre eigene Leistung.
In der deutschen Armutsdiskussion wird immer wieder unterstellt, das materielle Niveau der Absicherung sei zu gering und verursache Erscheinungen der sozialen Exklusion, weil den Erwachsenen das Geld für Restaurantbesuche fehle, den Kindern Geld für die Klassenfahrt und so weiter. Das Klassenfahrtproblem ist mittlerweile an allen Schulen Deutschlands gelöst, und für ein gelegentliches Bier etwa auf einem
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