Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen
Konkreten beginnen und kann im Allgemeinen und Abstrakten enden. Es geht niemals umgekehrt. So fing ich beim Anschaulichsten an, der Ernährung. Weil es meine Gewohnheit ist, nicht nur auf Statistiken zu vertrauen, hatten meine Frau und ich uns für einige Tage im Rahmen des Regelsatzes der Sozialhilfe ernährt, was gar keiner besonderen Anstrengung bedurfte. Dann bat ich eine Mitarbeiterin meiner Verwaltung, anhand von Testkäufen einen Speiseplan für drei Tage zu erstellen. Dieser war sehr ausgewogen und abwechslungsreich und enthielt jeden Tag vier Mahlzeiten. Einmal gab es allerdings Bratwurst, und die Bratwurst war das Einzige, was fortan aus diesem Speiseplan zitiert wurde.
Speiseplan eines Ein-Personen-Haushalts
Die Reaktion auf den Speiseplan war erschütternd. In einem Wort zum Sonntag musste ich als Beispiel für unchristliches Verhalten herhalten. Zahlreiche Sozialfunktionäre haben mich öffentlich beschimpft und geschmäht. Ich bekam Hunderte hasserfüllter E-Mails von Hartz-IV-Empfängern, aber auch zahlreiche und zum Teil begeisterte Zuschriften von älteren Frauen und Ehepaaren, die mir mittels akribisch geführter Speisepläne zeigen wollten, dass ich Recht hatte. Ein Ernährungsberater der Berliner Zeitung stellte fest, der Speiseplan sei eher reichlich und zudem etwas fleischlastig. Heiner Geißler behauptete dagegen in Zeitungskommentaren, bei diesem Speiseplan müsse man hungern. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, war in einer
Talkshow des Rundfunks Berlin-Brandenburg derselben Ansicht. Meine Bemerkung, Untergewicht sei doch wohl nicht gerade das Problem von Hart2-IV-Empfängern, veranlasste den Moderator zu der Frage, ob ich meinte, Hart2-IV-Empfänger seien zu dick.
In meiner eigenen Partei bekam ich große Schwierigkeiten. Meine Umfragewerte in Berlin gingen für einige Zeit in den Keller. Aber die anhaltende bundesweite Resonanz zeigt, dass ich offenbar einen Nerv getroffen hatte. Übrigens vertraute mir ein Kameramann nach einem der zahlreichen Fernsehinterviews zu diesem Thema an, er und seine Kollegen seien von der Redaktion angehalten worden, in den Wohnungen von Hartz-IV-Empfängern so zu filmen, dass man die umfangreiche elektronische Ausstattung nicht sehe. Nach allen Erhebungen verfügt der Empfänger von Arbeitslosengeld II, soweit er der Unterschicht angehört, nämlich über eine überdurchschnittliche Ausstattung an elektronischen Medien.
Wie kann es nur sein, fragte ich mich, dass die einfache Aufbereitung einer statistischen Tatsache soviel Emotionen hervorruft, und zwar nicht nur bei den Betroffenen, sondern bei den Funktionären und Anwälten unseres Sozialstaates im weiteren Sinne. Ich hatte natürlich eine Ahnung - darum habe ich das Experiment überhaupt unternommen -, danach habe ich die Antwort aber gewusst. Sie besteht aus drei Punkten, von denen der dritte der wesentliche ist:
1. Die Empfänger von Transferleistungen haben ein natürliches und verständliches Interesse an der Stabilität der Unterstützungszahlung und deren künftigen Erhöhungen, deshalb ist jeder Hinweis unwillkommen, die Summe sei in der einen oder anderen Hinsicht auskömmlich.
2. Sozialpolitiker, Sozialverbände und überhaupt die ganze Schicht der Funktionäre, Wissenschaftler und Publizisten, die materiell und moralisch von der Sorge für die Schwächeren leben, reagieren sehr empfindlich und generell ablehnend auf alle Hinweise und Argumente, die die Dringlichkeit dieser Probleme in irgendeiner Weise in Frage stellen, weil damit auch ihre eigene Rolle und Bedeutung in Frage gestellt wird.
3. Wenn der Regelsatz eine ausgewogene, abwechslungsreiche und ausreichende Ernährung erlaubt, dann haben die Empfänger von Transferzahlungen, die sich und ihre Kinder nicht gesund und in jeder Hinsicht adäquat ernähren, kein Einkommens- oder Armuts-, sondern ein Verhaltensproblem. Damit wird aus einer Forderung an die Gesellschaft eine Forderung an das Individuum und aus der Gesellschaftskritik eine Individualkritik.
Dieser letzte Punkt ist es, der Aggression und Wut auslöst, weil man damit wider den Stachel löckt, weil man das Individuum in die Pflicht nimmt und nicht, wie es üblich geworden ist, auf ungleiche Chancen verweist. Ein Beispiel für solches Ausweichen bietet der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung:
»Das Konzept der Teilhabe- und Verwirklichungschancen des Nobelpreisträgers Amartya Sen... fragt... danach, inwieweit...
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