Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen
Straßenfest reicht das Arbeitslosengeld II allemal. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Erfahrungen mit dem Berliner Sozialpass, mit dem alle Sozialhilfeempfänger sowie die Empfänger von Grundsicherung und Arbeitslosengeld II ein Anrecht auf ein ermäßigtes Monatsticket für den öffentlichen Nahverkehr zum Preis von 33,50 Euro erwerben. Darüber hinaus können sie unentgeltlich alle staatlichen Museen und Büchereien besuchen und für drei Euro eine Theater- oder Opernkarte erwerben. Während sich das ermäßigte Ticket der Berliner Verkehrsbetriebe großer Nachfrage erfreut, bleibt die Nachfrage nach dem freien oder ermäßigten Kulturangebot minimal. Die damit verbundene »soziale Exklusion« ist also weniger eine materiell bedingte, sondern eine von den Anspruchsberechtigten selbst gewählte.
Materielle und geistige Armut
Damit sind wir an einem zentralen Punkt der deutschen wie der internationalen Armutsdiskussion angelangt: Die Abhängigkeit von staatlichen Transfers ist oft begleitet von einem niedrigen Niveau allgemeiner und beruflicher Bildung, von Suchtverhalten und von persönlichen Defiziten unterschiedlichster Art. Diese statistische Beobachtung kann auf kausale Zusammenhänge hindeuten, muss es aber nicht, und die kausalen Zusammenhänge können in beide Richtungen weisen: Jemand wird auf Dauer arbeitslos, weil er wenig qualifiziert ist und ein Suchtverhalten entwickelt hat. Oder: Weil jemand ohne eigenes Verschulden für lange Zeit arbeitslos wurde, verloren seine Qualifikationen an Wert und er entwickelte allmählich ein Suchtverhalten.
Wenn man interne und externe, verhaltensbedingte und objektive Faktoren der Armut nicht ausreichend voneinander trennt, dann entsteht eine Verwischung, die der geistigen Klarheit nicht dient und zudem die Tendenz fördert, die Betroffenen von ihrem Teil der Verantwortung zu entlasten. Das wiederum verschlimmert die Probleme, statt zu ihrer Lösung beizutragen. Der Wiesbadener Sozialrichter Peter Brändle sagt über seine Klientel: »Ich habe viel Sympathie für die Idee, Kindern mehr Sachleistungen zu gewähren. Denn ich bezweifle, dass höhere Geldsummen wirklich bei den Kindern ankommen. Ich habe mit den Jahren ein Gespür für die Fürsorglichkeit von Eltern entwickelt. Viele bringen ihre Kinder zur Verhandlung mit, dann kann ich sehen, wie man miteinander umgeht, und kann die Kinder ansprechen. Bei vielen sehe ich, dass sie nicht nur unter materieller Armut leiden, sondern nicht gefördert werden.« 13
In der geltenden Armutsdefinition der EU heißt es: Als arm gelten Personen, Haushalte und Familien, »die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist«. 14 Nach dieser Definition wäre ein wohlhabender Dummkopf, der in der Schule nicht richtig lesen gelernt hat und keinen Beruf ausüben kann, als arm zu bezeichnen. Das ist natürlich Unsinn. Verfügung über »kulturelle und soziale
Mittel« ist ein verschleiernder Ausdruck. Auf gut Deutsch müsste es heißen: Wer nur über »geringe kulturelle und soziale Mittel« verfügt (politisch korrekter EU-Sprech), ist nicht intelligent, nicht gebildet und nicht verhaltensstabil genug. In der EU-Formulierung wird der so definierte Arme von der Verantwortung für seine Situation entlastet und ihm der moralische Druck genommen, selbst etwas daran zu ändern. Die in der EU-Definition umschriebene Armut im Geiste und im Verhalten ist grundsätzlich nicht durch ein zu niedriges Transfereinkommen verursacht und kann deshalb auch grundsätzlich nicht durch ein höheres Transfereinkommen geheilt werden. Dies gilt jedenfalls überall dort, wo staatliche Transferzahlungen ein sozioökonomisches Existenzminimum garantieren.
Ernährung
Nachdem 1993 die Berliner Tafel gegründet worden war, haben sich im Laufe der Jahre Tafelgründungen über ganz Deutschland verbreitet. Inzwischen gibt es solche Vereine in über 800 Städten. 15 Sie verteilen Lebensmittel, die zwar noch einwandfrei sind, aber nicht mehr zum Verkauf angeboten werden dürfen, unentgeltlich an karitative Einrichtungen, unter anderem an Wärmestuben, Suppenküchen, Frauenhäuser, Beratungsstellen, Jugendhäuser.
Begründet wurde die Notwendigkeit, in Berlin eine solche Einrichtung ins Leben zu rufen, mit den vielen »hilfsbedürftigen Menschen dieser Stadt«. Zu den Hilfsbedürftigen werden die Empfänger
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