Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen
Armutsrisiko ausgesetzt. 3 Für einen Alleinstehenden beginnt das Armutsrisiko bei einem verfügbaren Einkommen von 781 Euro pro Monat oder weniger, für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren liegt die Grenze bei 1640 Euro oder weniger.
Schaubild 4.1 Medianeinkommen und Armutsrisikogrenze im Zeitverlauf
Quelle: Senatsverwaltung für Finanzen Berlin, Stand Februar 2008. Nettoeinkommen einschließlich Transfers pro Person. Bis einschließlich 1990 Bundesrepublik, von 1990 an einschließlich neue Länder.
Mit bescheidenem Auskommen hat die so definierte Armutsrisikoschwelle viel, mit Armut im Sinne der Bibel oder auch nur des 19. Jahrhunderts gar nichts zu tun. Die Armutsrisikoschwelle in Deutschland ist heute höher als das durchschnittliche Nettoeinkommen der Deutschen auf dem Höhepunkt des Wirtschaftswunders Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts.
Stufen der Armut
Es ist üblich und sinnvoll, Stufen der Armut zu unterscheiden. Dem herkömmlichen Armutsbegriff am nächsten und zugleich relativ einfach zu definieren ist das physische Existenzminimum. In Indien stellt es die vielzitierte Schale Reis, in Deutschland jenen Betrag im Geldbeutel dar, der uns vor Hunger und Kälte bewahrt.
Die nächste Stufe ist das sogenannte soziokulturelle Existenzminimum (siehe Tabelle 4.1 ). In Deutschland wird es festgelegt durch die Regelsätze zur Sozialhilfe, die auch für die Grundsicherung im Alter und das Arbeitslosengeld II gelten. Bei der Lohn- und Einkommensteuer sind sie zugleich die Untergrenze für die zu gewährende Steuerfreiheit des Existenzminimums. Wer weniger vorzuweisen hat, ist von der Steuer befreit. 4
Das soziokulturelle Existenzminimum, das der Sozialstaat gewährt, soll vor physischer Armut schützen und auf bescheidenem Niveau eine Teilnahme am allgemeinen materiellen Lebensstandard der Gesellschaft ermöglichen. Festgelegt wird der Regelsatz nach den tatsächlichen Verbrauchsausgaben, die für die untersten 20 Prozent der Haushalte ohne Sozialhilfeempfänger alle fünf Jahre durch die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) ermittelt werden. In dem dazwischenliegenden Zeitraum erfolgt die Anpassung entsprechend der Rentenentwicklung. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass die Empfänger von Sozialtransfers den Anschluss an die allgemeine Entwicklung des privaten Verbrauchs nicht verlieren. 5 Da außerdem - im Rahmen von Angemessenheitskriterien - die tatsächlichen Wohn- und Heizkosten zur Grundlage der Kostenerstattung gemacht werden, ist auch den regional sowie zwischen Stadt und Land sehr unterschiedlichen Wohnkosten Rechnung getragen.
Die Definitionen der OECD zur Armut sind mittlerweile zum allgemein akzeptierten Standard geworden. Danach liegt die relative Armutsgrenze bei 50 Prozent des Nettoäquivalenzeinkommens, das Risiko, in Armut zu verfallen, wird - wie bereits erwähnt - bei 60 Prozent vermutet. Diese sogenannte Armutsrisikoschwelle wird in der deutschen Diskussion ständig mit der Armutsgrenze verwech-selt. Diese Grenze liegt für die OECD bei 40 Prozent des mittleren Nettoäquivalenzeinkommens.
Tabelle 4.1 Soziokulturelles Existenzminimum und Äquivalenzeinkommen im Vergleich
Mit der Umrechnung in Nettoäquivalenzeinkommen wird es möglich, dem Familienstand und damit der Kostendegression bei einem größeren Haushalt Rechnung zu tragen. Im Verhältnis zu einem Einpersonenhaushalt werden die Kosten folgendermaßen angesetzt:
• zwei Erwachsene ohne Kind mit dem 1,5-Fachen
• ein(e) Alleinerziehende(r) mit zwei Kindern unter 14 Jahren mit dem 1,6-Fachen
• zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren mit dem 2,1-Fachen. 6
Auf diese Weise sinkt das Nettoäquivalenzeinkommen bei ansonsten gleichen Einkommensverhältnissen, wenn die Zahl der Single-Haushalte und der Alleinerziehenden steigt. Soweit das Nettoäquivalenzeinkommen zum Maßstab für Transferzahlungen wird, steigt der Transferbedarf, je mehr Menschen sich trennen oder je weniger einen gemeinsamen Hausstand gründen. 7
Das Bundesverfassungsgericht hat mit dem Urteil vom 9. Februar 2010 zur Frage der Regelleistungen nach SGB II (»Hartz-IV-Gesetz«) 8 nicht die Höhe der Regelsätze, sondern deren Ermittlung gerügt. In den Leitsätzen heißt es:
»Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen
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