Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen
materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß der Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind... Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an den jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu.«
Es gibt danach keine Festlegungen zur Höhe des Unterstützungssatzes, sondern dazu, was er gewährleisten muss, nämlich die physische Existenz und ein Mindestmaß an gesellschaftlicher, kultureller und politischer Teilhabe. Die Vertreter der beklagten Bundesregierung müssen vor Gericht eine traurige Figur abgegeben haben, wenn ihnen dieser Nachweis angesichts des vorhandenen Absicherungsniveaus nicht gelungen ist.
Absolute und relative Armut
Relative Armut bedeutet Armut im Vergleich zum jeweiligen sozialen Umfeld. Setzt man die Kaufkraft eines Einkommens an der relativen Armutsgrenze in Deutschland (50 Prozent des Medianeinkommens - also des zentralen Wertes der nach der Einkommenshöhe gereihten Einkommen) gleich 100, so zeigt sich im Vergleich mit anderen OECD-Staaten eine enorme Spannweite (siehe Tabelle 4.2 ). Ein Japaner kann sich bei gleicher relativer Armut doppelt so viel kaufen wie ein Tscheche, ein Amerikaner fünfmal so viel wie ein Türke, ein Italiener doppelt so viel wie ein Pole und ein Schweizer ein Viertel mehr als ein Deutscher. Man versteht auf einmal, weshalb es für viele Türken durchaus lohnend ist, als Arme in Deutschland zu leben, und warum die meisten armen Amerikaner sich in ihrem Land recht wohl fühlen.
Tabelle 4.2 Vergleich der Kaufkraft an der relativen Armutsgrenze (Index Deutschland = 100)
Die relative Armut nach dem OECD-Konzept kann verstanden werden als internes Verteilungs- und Gerechtigkeitsmaß für ein Land. In Ländern, wo relativ mehr Leute unter die so definierte Armutsgrenze fallen als anderswo, ist die Verteilung auch ungleicher. Aber das sagt nichts über absolute Lebenslagen, denn ein Armer in einem reichen Land ist immer noch viel besser dran als ein Durchschnittsverdiener in einem armen Land. Jedes Wirtschafts- und Einkommenswachstum, das die Verteilung nicht ändert, erhöht gleichzeitig die Schwelle der relativen Armut. Es liegt also in der Definition der relativen Armut, dass die Bekämpfung derselben durch Wachstum immer ein Rattenrennen ist, das man nicht gewinnen kann.
Will man die Schwelle zur relativen Armut absenken, so bieten sich dafür neben Eingriffen in die Primärverteilung durch Steuern und Abgaben Veränderungen bei der Bestimmung des staatlich garantierten sozioökonomischen Existenzminimums an - allerdings mit Risiken und Nebenwirkungen (auf die ich noch eingehen werde). In Deutschland ist bereits heute das sozioökonomische Existenzminimum, das wirksam vor Armut schützen soll, so hoch angesetzt, dass die relative Armutsgrenze von 50 Prozent des mittleren Äquivalenzeinkommens im Regelfall deutlich überschritten wird. Das Konzept der relativen Armut hat aber mit Armut im klassischen Sinne nichts zu tun. Es ist letztlich sozialpsychologisch fundiert. Der
Mensch bewertet seine materiellen Möglichkeiten und seine Stellung im Leben überhaupt vorrangig nach dem sozialen Kontext getreu dem alten britischen Motto: »To keep up with the Jones.« Das subjektive sozioökonomische Existenzminimum liegt immer irgendwo knapp über oder unter den eigenen laufenden Konsumausgaben. 9
Damit sind wir bei der Armutsdefinition von Amartya Sen, der Armut als Mangel an »Verwirklichungsmöglichkeiten« auffasst: »In einem reichen Land verhältnismäßig arm zu sein, kann die Verwirklichungsmöglichkeiten selbst dann extrem einengen, wenn das absolute Einkommen gemessen am Weltstandard hoch ist.« 10 Auf die Armutsdefinition Amartya Sens nimmt mittlerweile ein großer Teil der Armutsforschung Bezug, auch der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung knüpft daran an. 11 Sens Definition, die auf Teilhabe- und Verwirklichungschancen für jeden Einzelnen abzielt, ist sehr flexibel. Sie gründet auf einem differenzierten, von Zuneigung geprägten Menschenbild und führt über das Armutsthema weit hinaus. Allerdings erweitert sie damit den Begriff der Armut ins Grenzenlose, so dass die Ränder im Ungefähren verschwimmen.
Ein Konzept,
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