Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen

Titel: Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Sarrazin
Vom Netzwerk:
von Arbeitslosengeld II, Grundsicherung und Sozialhilfe gezählt, mit anderen Worten alle, die von der staatlichen Absicherung des sozioökonomischen Existenzminimums leben.
    Die Aktivität der Tafeln wird von einer umfangreichen Berichterstattung im Fernsehen und in der Presse begleitet. Ihre Gründer und Förderer sind willkommene Gäste in Talkshows, Prominente und Politiker jeder Art zeigen sich gern bei den Essensausgaben. Manches Wort zum Sonntag und viele besorgte Pressekommentare verweisen auf die langen Schlangen von Kindern, die in den Suppenküchen nach Essen anstehen.
    Woher kommt diese mediale Faszination? Meine - zugegeben etwas polemische - Antwort lautet: Hier wird Armut im biblischen Sinne anschaulich. Dass es so etwas mitten in Deutschland gibt, lässt uns indigniert erschaudern. Wir denken an die Speisung der Fünftausend und an die Worte Jesu: »Ich bin das Brot des Lebens.« Alle Konnotationen unserer vergessenen christlichen Erziehung tauchen da wieder auf, und außerdem wird unser Skandalbedürfnis gestillt: Die Armut in Deutschland ist so groß, dass man Suppenküchen braucht - diese Geschichte ist einfach zu gut, um nicht wahr zu sein.

    Tabelle 4.3 Die Lebensmittelausgaben der privaten Haushalte und der Regelsatz der Sozialhilfe im Vergleich

    Ausgaben für Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren (in Euro)
Privathaushalte
monatliche Ist-Ausgaben
Regelsatz It. Regelsatzverordnung
alle
287
mit einem Nettoeinkommen
unter 1300 Euro
155
von 1300 bis 1700 Euro
205
von 1700 bis 2600 Euro
268
mit Sozialhilfeanspruch

247
Vgl. Verordnung zur Durchführung des § 28 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 1. Janaur 2005, zuletzt geändert durch Art. 17GG vom 2. März 2009 (BGBL | S. 416,432), ferner die Wirtschaftsrechnungen privater Haushalte 2006, Statistisches Jahrbuch 2008 für die Bundesrepublik Deutschland , Wiesbaden 2008, S. 549.
    Fast immer siegt die gute Geschichte über die sperrige Wahrheit. Die sperrige Wahrheit ist nämlich: Der Regelsatz der Sozialhilfe, der auch für Arbeitslosengeld II und Grundsicherung gilt, reicht aus, um sich abwechslungsreich, ausgewogen und gesund zu ernähren. Doch wer will das glauben angesichts der Schlangen an den Essensausgaben der Tafeln? Dabei sind die Fakten eindeutig. Man muss nur die tatsächlichen durchschnittlichen Ist-Ausgaben der deutschen Privathaushalte für Lebensmittel, Getränke und Tabakwaren mit den Ansätzen der entsprechenden Abteilung im Regelsatz für Sozialhilfe vergleichen ( Tabelle 4.3 ).
    Der deutsche Privathaushalt hat eine Durchschnittsgröße von 2,08 Personen, darunter 0,29 Kinder unter 15 Jahren. Der anteilige Regelsatz gemäß Regelsatzverordnung 2009 wurde für die Berechnung
in Tabelle 4.3 entsprechend der durchschnittlichen Haushaltsgröße und dem durchschnittlichen Kinderanteil gewichtet. Daraus ergibt sich, dass ein Haushalt, der Grundsicherung, Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld II bezieht, im Monat durchschnittlich 247 Euro für Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren ausgeben kann, wenn er sich an der Verbrauchsstruktur des Regelsatzes orientiert. Das sind 86 Prozent der Ist-Ausgaben des durchschnittlichen deutschen Haushalts. In den Ist-Ausgaben des Durchschnittshaushalts sind 40 Euro für Tabakwaren und eine ähnliche Summe für den nur grob abzuschätzenden Verbrauch an alkoholischen Getränken und alkoholfreien Erfrischungsgetränken (Mineralwasser und Ähnliches) enthalten. 16 Allein in diesen beiden Positionen liegt ein Einsparpotential, das es jedem, der in einem auf Transfers angewiesenen Haushalt lebt, ermöglicht, sich exakt so zu ernähren, wie das bei einem durchschnittlichen Verdienst möglich ist - wenn er will sogar besser.
    Diese Rechnung hatte ich Anfang 2008 als Berliner Finanzsenator öffentlich gemacht. Berlin ist die Transferhauptstadt Deutschlands. Angesichts dieses bedauerlichen Umstands, der die Haushaltssituation und die Stimmung in der Stadt maßgeblich prägte und prägt, hielt und halte ich nichts von einer Mitleidsdiskussion, die 20 Prozent der Bevölkerung in die Armutsecke stellt und pauschal bedauert. Daraus konnte und kann nichts Produktives werden. Ich wandte mich dagegen, die Missstände bei einem Teil der Bevölkerung - Fehlernährung, Vernachlässigung der Kinder und anderes mehr - kausal mit der Einkommenssituation oder dem Anteil der Transferempfänger in Verbindung zu bringen, und wollte darüber öffentlich diskutieren.
    Eine öffentliche Diskussion muss im Anschaulichen und

Weitere Kostenlose Bücher