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Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen

Titel: Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Sarrazin
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Unterschiede auf ungleiche Verwirklichungschancen zurückzuführen sind. Ziel sozialstaatlichen Handelns ist es, Ungleichheiten bereits bei den zur Verfügung stehenden Chancen zu reduzieren. Alle müssen die Chance erhalten, ihre individuellen Möglichkeiten auszuschöpfen... Aus Teilhabechancen werden Verwirklichungschancen, wenn zu individuellen Potenzialen entsprechend förderliche gesellschaftliche Realisierungschancen hinzukommen, die eine Person tatsächlich in die Lage versetzen, von der eröffneten Teilhabechance Gebrauch zu machen. Entscheidend sind hier etwa die Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme und des Bildungssystems, aber auch die Lage auf dem Arbeitsmarkt und durchlässige Gesellschaftsstrukturen. Nach Amartya Sen stellt Armut dabei einen Mangel an Verwirklichungschancen dar, Reichtum dagegen ein sehr hohes Maß an Verwirklichungschancen.« 17
    Daran ist nichts falsch, nur kommen das Individuum, sein Verhalten und seine Verantwortung hier überhaupt nicht vor. Alles scheint eine Frage externer Chancenzumessung, und für die sind Staat und Gesellschaft verantwortlich. Gerät jemand in Armut oder Armutsgefährdung,
lag es eben am Chancenmangel und nicht an ihm selbst. Andere Ansichten gelten in Deutschland als politisch inkorrekt.
    Im Zusammenhang mit dem Hartz-IV-Menü lassen sich aber einige individuelle Versäumnisse beobachten, etwa wenn
    • Kinder nüchtern in die Schule kommen und sich vorwiegend von Fastfood und Süßigkeiten ernähren, weil die Eltern nicht kochen können oder zu träge sind, morgens aufzustehen und ihren Kindern ein Frühstück zuzubereiten
    • Eltern Alkohol und Zigaretten kaufen anstatt Obst und Gemüse und nicht auf ausreichende Bewegung achten, was zu Fettleibigkeit und gesundheitlichen Folgeschäden führt, die in der Unterschicht (die zum Teil, aber nicht vollständig mit den Beziehern von Transfereinkommen identisch ist) häufig diagnostiziert werden.
    Für jedes individuelle Verhalten lassen sich auch gesellschaftliche Ursachen benennen, doch man darf das Individuum nicht grundsätzlich von der Verantwortung für sein Verhalten freisprechen. Dazu neigen wir aber in der Armutsdiskussion, und in großen Teilen der Armutsforschung ist das nicht anders.
    Warum dann aber die langen Schlangen vor den Essensausgaben der Tafeln, wenn doch der Regelsatz ausreicht? Die Antwort ist ganz einfach: Wo es etwas umsonst gibt, wird das Gesamtbudget entlastet. Würde man DVDs und Geräte der Unterhaltungselektronik umsonst an Hartz-IV-Empfänger ausgeben, würden sich noch längere Schlangen bilden. Solch einer Ausgabestelle würde aber der für Wohltäter so attraktive biblisch-emotionale Appeal fehlen, den eine öffentliche Speisung hat.
    Die Essensausgaben und Suppenküchen verfolgen einen guten Zweck und sind Ausdruck eines löblichen privaten Engagements. Das soll gar nicht bestritten werden. Aber das Geld wäre besser investiert in Kochkurse, Hauswirtschaftskurse und Verhaltenstraining für die Unterschicht. Weshalb soll eine Hartz-IV-Familie noch die Anstrengung auf sich nehmen, den Essenseinkauf zu planen, selbst zu kochen und gemeinsam zu essen, wenn es alles umsonst und bereits fertig gekocht in der Suppenküche nebenan gibt? Hier wird Fehlverhalten
bestätigt und perpetuiert, anstatt seine Ursachen zu bekämpfen. Ungefestigte Menschen, die nicht planen, nicht mit Geld umgehen, nicht kochen können und denen es an Willensstärke fehlt, die brauchen Suppenküchen, der Rest der Transferempfänger braucht sie nicht. Aber auch den ungefestigten Menschen würde ein Verhaltenstraining mehr helfen als die Unterstützung ihrer Schwächen.
     
    Gesundheit
    Ein dummer und polemischer Spruch lautet: »Weil du arm bist, musst du früher sterben.« Im Sozialstrukturatlas von Berlin scheint dieser Spruch Bestätigung zu finden. Der Atlas stellt für die 12 Berliner Bezirke und die kleinere Einheit der Planungsräume soziostrukturelle Faktoren zusammen, unter anderem zu den Bereichen Bildungsverhalten, Arbeitsmarktdaten, Transferempfänger, Ausländeranteile. Die hier ermittelten Daten offenbaren einen engen Zusammenhang zwischen dem Sozialindex und der Lebenserwartung: 18 Im Durchschnitt leben die Männer in Charlottenburg-Wilmersdorf 4,1 Jahre länger als in Friedrichshain-Kreuzberg, bei den Frauen beträgt der Unterschied zwischen dem besten und dem schlechtesten Bezirk 2,8 Jahre. Der Berliner Fall ist deshalb so interessant, weil die Umweltbedingungen und die Infrastruktur der

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