Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen
individuelle Vermögen, nicht im Sinne von Haben, sondern im Sinne von Können und Ressourcen. Dazu zählen zum Beispiel Bildung, Erziehung, persönliche Charaktereigenschaften, sportliche Fähigkeiten oder die Beherrschung eines Musikinstruments. »Fähigkeit zur Teilhabe« wird bei uns aber reduziert auf die Ermöglichung von Restaurantoder Kinobesuchen, also darauf, den Umfang an zugeteilten »primary goods« weiter zu erhöhen. Sen dagegen meint mit »capability« die Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu helfen. Bildung verbessert diese Fähigkeit, Anspruch auf Krankenversorgung verbessert sie, Freiheit verbessert sie - der bessere Zugang zu »primary goods« dagegen nicht unbedingt.
Von einer liberalen Position, wie sie in den Schlagworten »Hilfe zur Selbsthilfe« oder »Fördern und Fordern« zum Ausdruck kommt, ist Amartya Sen gar nicht so weit entfernt. Sens Annäherung an das Armutsthema ist geprägt von den Verhältnissen in seinem Heimatland Indien und in der gesamten Dritten Welt. Wer sich bei der Diskussion um Armut und Gerechtigkeit auf die Einkommensverteilung in einem Wohlstandsland wie Deutschland konzentriert, hat Sen also nicht unbedingt als Verbündeten.
Bei einer Versorgung mit »primary goods« entsprechend dem sozioökonomischen Existenzminimum in Deutschland ist der »Engpassfaktor« für eine selbstbestimmte Lebensführung nicht das Einkommen, sondern Sozialisation, Qualifikation, allgemeine Bildung und andere individuelle Fähigkeiten und Eigenschaften. Hier muss man ansetzen, wenn man mehr Gerechtigkeit im Sinne Amartya Sens schaffen will. Bekämpft werden muss dagegen die »Armut im Geiste«, das heißt jene Kombination aus Bildungsferne, Sozialisationsdefiziten sowie Mangel an Gestaltungsehrgeiz und Lebensenergie, der große Teile der Unterschicht in Deutschland prägt. Dazu
gehört auch, alle Instrumente der materiellen Armutsbekämpfung immer wieder auf ihre verhaltenssteuernde und erzieherische Wirkung zu überprüfen.
Gerade unter dem Aspekt des Glücks muss der Staat vornehmlich jene »capabilities« stützen, die den Menschen zu einer selbstbestimmten, ihn mit Stolz erfüllenden Lebensweise befähigen. Die rein materielle Unterstützung, wie hoch sie auch sei, reicht immer nur für einen Lebensstandard am unteren Ende der Einkommenspyramide und kann die Betroffenen niemals glücklich machen. Investition in das Glück der Menschen muss Investition in ihren Stolz sein, und das heißt in die Entwicklung ihrer Fähigkeiten und die Förderung ihrer Anstrengungsbereitschaft.
Auch so kann Amartya Sen gelesen werden.
Armut und Gesellschaft
Der politische Charakter der Armutsdefinition
Der Begriff der Armut ist wie sein Gegenstück Wohlstand oder Reichtum nicht ohne Vergleich mit anderen und damit nicht ohne Rückgriff auf gesellschaftliche Bezüge denkbar, denn es geht immer auch um die Verteilung von Ressourcen in einer Gemeinschaft, sei es das steinzeitliche Dorf oder die moderne Industriegesellschaft. Deshalb bedeutet Diskussion über Armut immer auch Diskussion über Gerechtigkeit, und Konzepte zur Verminderung oder Beseitigung von Armut sind immer auch Konzepte zur Herstellung von mehr Gerechtigkeit.
Die wissenschaftlichen Konzepte von Gerechtigkeit sind entweder utopisch, weil sie intersubjektive Vergleichbarkeit und eine logische Konsistenz von Präferenzen voraussetzen, die es aus rein logischen Gründen nicht geben kann, oder sie sind pragmatisch im Sinne eines social piecemeal engineering . Dann erfordern sie den gesellschaftlichen Diskurs und eine demokratische oder demokratieähnliche Willensbildung, wenn man die Figur des allwissenden und wohlwollenden Diktators ausschließt.
Damit aber hat der Gerechtigkeitsbegriff wie auch die sich aus ihm herleitende Armutsdefinition einen politischen Charakter. Da das Politische aber unteilbar ist, kann man nicht trennen zwischen Zielen, Instrumenten und Nebenwirkungen. Deren Zusammenwirken wiederum kann man auch wissenschaftlich analysieren. Die Effizienz unterschiedlicher Umverteilungsformen kann man untersuchen, auch deren Auswirkungen auf die Zufriedenheit oder die Leistungsbereitschaft, auf das generative Verhalten, auf Mentalitäten, auf das Wirtschaftswachstum und so fort. Man kann die Ursachen von Armut untersuchen und darauf aufbauend den Versuch unternehmen, die Gründe für Armut zu bekämpfen und ihre Entstehung zu verhindern. In solch einem komplexen Bild können sich auch Grenzen der Bekämpfung einer wie immer
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