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Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen

Titel: Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Sarrazin
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definierten Armut ergeben, weil man andere Ziele nicht gefährden oder negative Rückkopplungen vermeiden will.
    Aufgrund ihres politischen Charakters ist die Armutsdefinition und die Diskussion um Ursachen der Armut und Möglichkeiten ihrer Beseitigung Zeitströmungen, Moden und Interessen unterworfen. Es geht nicht nur um die reine Wahrheit, sondern auch um den Kampf um Weltbilder und die Durchsetzung politischer Vorstellungen. In der gegenwärtigen deutschen Diskussion stehen die negativen individuellen Folgen und die gesellschaftlichen Ursachen im Mittelpunkt. Dagegen werden die individuellen, der Person zuzurechnenden Ursachen der Armutslage sowie die gesellschaftlichen Folgen einer vorrangig am persönlichen Einkommen orientierten Armutsbekämpfung wesentlich weniger diskutiert. Fast schon tabuisiert wird der Umstand, dass unsere Art der Armutsbekämpfung Leistungsferne und mangelhaften Willen zur Selbsthilfe teilweise belohnt und damit zur Verfestigung einer transferabhängigen Unterschicht in Deutschland beiträgt.
    Für die materielle Armut in Deutschland gilt jedenfalls: Die scheinbar beobachteten Negativfolgen von Armut sind zu 90 Prozent nicht Folgen von Einkommensarmut, sondern deren Begleiterscheinungen, die aber dieselben Ursachen haben wie die Einkommensarmut. Die fast schon konsequente Nichtbeachtung dieses
Zusammenhangs entzieht einem großen Teil der Armutsforschung in Deutschland die wissenschaftliche Grundlage und verweist sie in den Bereich der Ideologie.
     
    Umverteilung
    Einkommensunterschiede und damit relative Armut sind aus den beschriebenen logischen und tatsächlichen Gründen grundsätzlich unaufhebbar und können, das ergibt sich aus der Definition der relativen Armut als einem Verteilungsmaß, auch nicht durch Wirtschaftswachstum beseitigt werden. Relative Armut kann aber abgemildert werden, und das geschieht auch mit den Instrumenten der Steuerpolitik, der Abgabenpolitik, des Zugangs zu öffentlichen Gütern und der direkten Transferzahlungen in allen Industriestaaten. Unterschiedliche Wege und Kombinationen führen dabei zu relativ ähnlichen Verhältnissen.
    Gemessen an der Armutsrisikoschwelle (60 Prozent oder weniger des mittleren Nettoäquivalenzeinkommens) haben in Deutschland vor Umverteilung 26 Prozent der Haushalte ein Einkommen an oder unter dieser Grenze, nach Umverteilung sind es 13 Prozent. Damit liegt Deutschland auf dem Niveau der skandinavischen Staaten (die übrigens vor Umverteilung alle eine höhere Armutsrisikoquote haben als die Bundesrepublik).
    Mit einer Armutsrisikoquote von 26 Prozent vor Umverteilung liegt Deutschland exakt im Durchschnitt der EU. Offenbar folgt die Einkommensverteilung unabhängig vom erreichten wirtschaftlichen Niveau überall ähnlichen Gesetzmäßigkeiten und führt zu ähnlicher Ungleichheit. Auch das belegt, dass relative Armut nicht quasi definitorisch durch das allgemeine Wachstum von Wirtschaft und Wohlstand beseitigt werden kann, und bestätigt die Unvollständigkeit und den irreführenden Charakter einer Armutskonzeption, die sich auf die relative Armut konzentriert. Den EU-Berechnungen zufolge leben zum Beispiel in Tschechien nach Umverteilung nur 10 Prozent der Bevölkerung in relativer Armut gegenüber 13 Prozent in Deutschland. Gibt es in Tschechien deshalb weniger Arme? Das Gegenteil ist der Fall, denn bei der absoluten Kaufkraft liegt die Ar-mutsgrenze in Tschechien bei 56 Prozent des deutschen Niveaus. Das heißt, ein deutscher »Armer« hat ein nahezu doppelt so hohes Einkommen wie ein tschechischer Armer.

    Schaubild 4.2 Reduktion des Armutsrisikos der Gesamtbevölkerung durch Sozialtransfers (2005)

    Wer relative Armut bekämpfen will, jagt einer Schimäre nach: Läge das durchschnittliche Nettoäquivalenzeinkommen in Deutschland bei einer Million Euro, dann läge die Armutsrisikoschwelle eben
bei 600 000 Euro. Heute entscheidet die Armutsrisikoschwelle in Deutschland über die Beschaffung des neuen Kleinwagens oder Farbfernsehers, in einer Millionärswelt würde die genauso definierte Schwelle über die Beschaffung einer 20-Meter-Yacht entscheiden. Aus der Sicht der wirklich Armen in der Welt liegt die deutsche Armutsrisikoschwelle in der Nähe der fiktiven Millionärswelt und weit entfernt von ihrer Wirklichkeit in den Slums von Bombay oder Jakarta.
    Die Wirkungen des gesamten Steuer- und Transfersystems auf die Primärverteilung zu messen, ist schwierig und wirft auch methodische Probleme auf, da man nicht nur auf die

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