Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen
unter den Aspekten von Gleichheit und Gerechtigkeit zugeteilt würden.
Über Ungleichheit und Gerechtigkeit lässt sich dennoch trefflich streiten. Die von Frank Nullmeier gestellte Frage »Wie viel Ungleichheit ist gerecht?« muss ernst genommen werden. Aber man kann nicht einfach, wie Nullmeier das tut, jedes Anwachsen von Ungleichheit als wachsende Gerechtigkeitslücke kritisieren. 25 Dazu sind die Gründe von Ungleichheit zu verschieden, und dazu ist der Gerechtigkeitsbegriff auch viel zu diffus. Das wirft die Frage nach der Gerechtigkeit in Bezug auf die Armut auf.
Gerechtigkeit
Amartya Sen hat treffend bemerkt, dass es keine normative Theorie der sozialen Gerechtigkeit gibt, die nicht irgendwo von der Gleichheit von etwas ausgeht. 26 In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung war es das Bekenntnis, dass die Menschen gleich geboren sind und die Freiheit haben sollen, ihr individuelles Glück zu suchen (pursuit of happiness). Da gegenwärtig keine Armutsdefinition ohne den Verweis auf Amartya Sen auszukommen scheint, habe ich mich mit seinem Werk näher beschäftigt und war begeistert von seiner tiefgründigen und vieldimensionalen Analyse.
Ausgehend von der Erkenntnis, dass es eine konsistente interpersonale Nutzenfunktion nicht geben kann (Arrow-Paradoxon), übt Sen pragmatische und logische Kritik an den Bemühungen von John Rawls, die Herstellung von Gerechtigkeit als Sozialkontrakt zu begreifen. 27 Sen setzt sich damit auseinander, dass es vollständige Gerechtigkeit aus logischen wie aus tatsächlichen Gründen gar nicht geben kann. Er weist einen anderen, pragmatischen Weg: Der Zustand der Gerechtigkeit in der Welt wird immer dann verbessert, wenn es gelingt, ein offenkundig schreiendes Unrecht abzumildern oder aus der Welt zu schaffen. Dann bleibt immer noch genügend Unrecht übrig, mit dem man dann entsprechend verfährt. Das erinnert
stark an Karl Poppers »social piecemeal engineering« (den Sen übrigens nicht zitiert). Dieses stufenweise Vorgehen entlastet die Diskussionen von unnötiger Prinzipienreiterei und macht Einigungen auf konkrete Teilziele möglich.
Anlässlich der Veröffentlichung seines neuesten Buches »The Idea of Justice« sagte Amartya Sen in einem Interview: »There is no such thing as perfect justice. The idea of perfect justice drives to a mistaken route.« 28 Vielmehr komme es darauf an, durch vernünftige Argumentation und entsprechende Institutionen und Regulierungen in verschiedenen Bereichen stufenweise mehr Gerechtigkeit zu schaffen. Gerechtigkeit ließe sich auch nicht genau quantifizieren, man könne allerdings auf den unterschiedlichen Feldern der Gerechtigkeit eine Rangfolge von gerechten und weniger gerechten Zuständen herstellen. So sei die Analphabetenrate in Indien zwar unakzeptabel hoch, aber niedriger als früher. Das Streben nach mehr Gerechtigkeit müsste eher ein pragmatischer Prozess sein und weniger der Versuch, ein gerechtes System abstrakt abzuleiten und dieses durch Sozialkontrakt beziehungsweise per Gesetz umzusetzen. Gerechtigkeit ist daher immer relativ, als Vergleich unterschiedlicher Zustände zu sehen und niemals absolut erreicht.
In Bezug auf Armuts- und Verteilungsfragen stellt Sen die herkömmliche Konzentration auf die »primary goods« - also die materielle Verfügung über Güter und Dienste beziehungsweise auf die Einkommensverteilung - in Frage. Er meint, dass der Zusammenhang zwischen der Frage, über welche materiellen Güter jemand verfügt und welche substantiellen Freiheiten zur Selbstverwirklichung er genießt, nicht alles abdecke. Man müsse sich nicht auf die »primary goods«, sondern auf die »actual capabilities« der Menschen konzentrieren. 29 Sen verweist darauf, dass schon Aristoteles gesagt hat: »Das auf Gelderwerb gerichtete Leben hat etwas Unnatürliches und Gezwungenes an sich, und der Reichtum ist das gesuchte Gut offenbar nicht. Denn er ist nur für die Verwendung da und nur Mittel zum Zweck.« 30 Wenn man die relativen Vorteile, die Menschen im Vergleich zueinander haben, beurteilen wolle, meint Sen, müsse man alle ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten in
den Blick nehmen und nicht nur Einkommen und Vermögen als Vergleichsbasis zugrunde legen.
Hier ist man einer interessanten Verschiebung auf der Spur: »Actual capability« wird in der deutschen Armutsdiskussion gern mit »Fähigkeit zur Teilhabe« übersetzt. Das ist es auch. Aber »capability« meint zunächst die individuelle Fähigkeit und das
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