Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen
wurde, je »meritokratischer« sie wurde, umso mehr passte sich die soziale Schichtung den Begabungsprofilen an. Die unteren Schichten gaben die Begabteren nach oben ab, und die oberen Schichten die weniger Begabten nach unten. Diese Differenzierung erfolgt umso radikaler, je mehr Chancengleichheit in einer Gesellschaft herrscht - eine Problematik, die grundsätzlich unaufhebbar ist. Die Annahme, Chancengleichheit könne Ungleichheiten aufheben, ist also ein großer Irrtum. In Wirklichkeit wirkt die Chancengleichheit verschärfend in einem bitteren Sinne: In einer wirklich chancengleichen Gesellschaft ist jemand nur noch aus Gründen »unten«, die in seiner Person liegen.
In Deutschland beobachten wir schon seit vielen Jahren die allmähliche Verfestigung und das beständige Wachstum einer weitgehend funktions- und arbeitslosen Unterklasse. Aus den bereits beschriebenen Gründen treibt ein relativ hohes garantiertes Grundeinkommen diese weniger Leistungsstarken in die Nichtbeschäftigung und bindet sie dort. Der moderne Sozialstaat speziell deutscher Prägung tut aber obendrein einiges dafür, dass die weniger Qualifizierten und weniger Tüchtigen tendenziell fruchtbarer sind als die Qualifizierteren und Tüchtigeren: Die materielle Sorge für die Kinder wird ihnen vollständig abgenommen. Für jedes Kind erhalten die Eltern 322 Euro monatlich als vom Staat garantiertes soziales
Existenzminimum. Dies ist ein maßgeblicher Grund dafür, dass die Unterschicht deutlich mehr Kinder bekommt als die mittlere und obere Schicht. Für einen großen Teil dieser Kinder ist der Misserfolg mit ihrer Geburt bereits besiegelt: Sie erben (I) gemäß den Mendelschen Gesetzen die intellektuelle Ausstattung ihrer Eltern und werden (2) durch deren Bildungsferne und generelle Grunddisposition benachteiligt (siehe dazu auch Kapitel 6).
Die Probleme einer verfestigten und nicht ausreichend in den produktiven Kreislauf integrierten Unterschicht 20 überlagern sich zudem mit den ungelösten Integrationsproblemen eines großen Teils der Migranten aus der Türkei, Afrika sowie dem Nahen und Mittleren Osten. Aber sie sind mit diesen Problemen nicht deckungsgleich (siehe dazu Kapitel 7).
Sollte Arbeitsmarktpolitik verhaltenslenkend wirken?
Wir lesen in der Presse immer wieder von Hartz-IV-Karrieren und -Schicksalen. Eine besonders anschauliche Geschichte, in der die Erfahrungen mit der Hartz-IV-Reform aufgearbeitet werden, erschien im Mai 2009 im Spiegel unter dem Titel »Das Gefühl von Arbeit«. 21 Sie spielt in Gelsenkirchen, wo die Arbeitslosenquote knapp 16 Prozent erreicht. Dirk Sußmann, der stellvertretende Leiter der Gelsenkirchener Arbeitsvermittlung, sagt: »Wenn Sie Arbeit wollen, dann finden Sie hier in 15 Minuten einen Job.« Stolz führt er den neuen Job Point vor und erläutert: »Hier ist ein Ort, wo es wirklich Arbeit gibt.« Über den Monitor laufen währenddessen 427 Arbeitsangebote in Gelsenkirchen und Umgebung.
Carola Goetze, 46 Jahre, ist seit vielen Jahren arbeitslos, ebenso ihr Mann. Das Ehepaar und seine achtjährige Tochter bekommen 1400 Euro im Monat. Carola Goetze hat einen Ein-Euro-Job bei der Essensausgabe der Gelsenkirchener Tafel. Sie war einmal im Job Point mit dem Ergebnis: »Für mich war da nichts dabei.« Während der vergangenen vier Jahre wurden ihr von der Agentur für Arbeit sechs Jobs angeboten, sie wollte keinen davon. Arbeitsvermittler Sußmann sagt, dass in Gelsenkirchen alle 20 Minuten ein Arbeitsvertrag abgeschlossen werde, die Arbeitslosigkeit sei nicht statisch.
Er verwaltet viele Aktivierungsmöglichkeiten, aber es gelang ihm dennoch nicht, Carola Goetze mit ihren 46 Jahren in reguläre Arbeit zu bringen. Bekämen Carola Goetze und ihre Kleinfamilie nicht monatlich 1400 Euro vom Staat, würde sie wohl längst einer bezahlten Arbeit nachgehen.
Es gibt Millionen Carola Goetzes im System, das zeigt die Untersuchung der Dynamik im SGB II (Sozialgesetzbuch, Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende) durch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: In den ersten drei Jahren der Grundsicherung gemäß SGB II von 2005 bis 2007 waren 3,15 Millionen Menschen in 1,5 Millionen Bedarfsgemeinschaften durchgehend von Hartz IV abhängig. Ende 2007 hatten rund 5 Millionen Menschen in rund 3,1 Millionen Bedarfsgemeinschaften mehr als 24 Monate von Hartz IV gelebt, das waren 87 Prozent aller Bezieher von Hartz-IV-Leistungen. In der abstrakten Sprache der Forscher heißt es
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