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Deutschlandflug

Titel: Deutschlandflug Kostenlos Bücher Online Lesen
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mitgekriegt:
    »Ja, der ist informiert. Leider haben wir hier kein Tonband mitlaufen bei Anrufen von auswärts. Sonst hätten wir Ihnen den Anruf vorspielen und Sie hätten die Stimme identifizieren können.«
    »Na, das nenne ich Teamwork! Bei Ihnen kommt wohl jeder mal ran ans Mikrofon, was?«
    Aber Thomas war nicht mehr nach Lachen zumute.
    »Sind Sie noch in 41.000 Fuß?«
    »Natürlich! Wir haben noch keine Abstiegsgenehmigung!«
    »Bleiben Sie um Himmels willen oben! Ihre Bombe ist um 20 Uhr 45 detoniert, nicht war? In Ihrer Reiseflughöhe!«
    »Ja? Eine barometrische Bombe war das nicht! Ich ahne, worauf Sie hinaus wollen!«
    Äußerlich beherrscht, aber kalkweiß im Gesicht, antwortete Thomas:
    »Es besteht begründeter Verdacht, daß Sie mit zwei Bomben durch die Gegend geflogen sind. Und eine Bombe ist noch immer nicht detoniert!«
    Blochs Besatzung benötigte die Strecke vom Funkfeuer Warburg bis Fulda, um die zweite Bombe zu akzeptieren. Warburg war ein Städtchen, das im Dreißigjährigen Krieg eine Rolle gespielt hatte. Wenn in einer Ansage vom Überflug Warburgs die Rede war, glaubten fast alle Passagiere, Marburg sei gemeint. Eine winzige Verwechslung; man traute dem Landläufigen mehr als dem Außergewöhnlichen. Nach der gleichen psychologischen Reaktionsweise hatte die Crew die erste Bombe als die ›Bombe schlechthin‹ betrachtet.
    Die Detonation war von den Passagieren nicht wahrgenommen worden. Der Geräuschpegel war nicht nur im Cockpit, sondern auch in der Kabine relativ hoch. Nur durch stundenlange Gewöhnung an die gleichförmigen Geräusche des Fahrtwindes, der Hydraulik und der elektrischen Systeme wurde er als niedrig empfunden. Aber die gesamte Kabinencrew wußte, daß trotz einer Explosion an Bord noch immer nicht die Bombe unschädlich gemacht worden war.
    Die Katastrophe war nicht mehr aufzuhalten. Keiner wußte eine Lösung.
    Einsamkeit, Verlorenheit, dachte Margot Gundolf auf ihrem Sitz … über zweihundert Passagiere um mich – wie ist das möglich? Das gleiche Schicksal – warum verbindet es nicht? Eine Melodie ging ihr durch den Kopf … das Concierto de Aranjuez … Adagio, der zweite Satz. Thomas hatte die Platte oft aufgelegt, an stillen Herbstabenden, wenn die Kinder zu Bett waren … Das Duett zwischen Englischhorn und Gitarre … Einmal hatten sie in der Höchster Jahrhunderthalle Julien Bream gesehen, den Thomas für den besten Gitarristen hielt. Dieser zweite Satz hatte sie mehr als alles andere gefangengehalten, dieses klagende Melisma, das an die Passionszeit erinnerte … Sie hatte seltsame Imaginationen dabei gehabt: Don Quichotte, der über die öde Mancha ritt, Klepperspuren auf dem zerklüfteten, versalzten Wüstenboden, auf dem nichts wuchs als spärlicher Kameldorn. Seine traurige Gestalt hoch aufgereckt gegen einen blutenden Abendhimmel … Eine gewaltige Einsamkeit war um ihn … Aber sie rührte nicht nur von der spröden Landschaft her; es war eine Einsamkeit, die der Ritter auch und gerade inmitten Massen von Menschen gehabt hätte: Wer entschied eigentlich, was Traum, was Spuk, was Realität war? Sah Don Quichotte in simplen Windmühlenflügeln Dämonen? Oder hielt das Volk die Dämonen für simple Windmühlenflügel?
    Thomas hatte einmal gefragt, ob sie wisse, daß Joaquin Rodrigo (er sei übrigens blind) dieses Konzert 1939 geschrieben habe. Und ob sie wisse, was in jenem Jahr passiert sei? (Sie konnte sich nicht erinnern; sie lebte damals noch nicht.) Am 1. September 1939 sei Hitler in Polen eingefallen. Die gleiche Masse, die Don Quichottes Imaginationen für Wahnvorstellungen eines blöden Möchtegernritters gehalten habe … die gleiche Masse habe auch das aufsteigende Reich der Dämonen für eine harmlose Landschaft mit Windmühlenflügeln gehalten!
    Sie schrak auf. Ein älterer Mann, grauschläfrig, Schmisse auf der rechten Backe, stand vor ihr:
    »Könnte ich einen doppelten Whisky haben, Fräulein?«
    »Ich will nicht sterben!« sagte sie zu sich. Laut sagte sie: »Gern! Scotch oder Bourbon?«

33
    Die ›Steppenadler‹ flog an Hannover vorbei, leineaufwärts. Durch die Messe hatte sich die Landeshauptstadt immer weiter nach Süden ausgedehnt. Voraus lag Hildesheim – das kahlenbergische Bauernland zog sich bis zum Deister hin. Der Hildesheimer Wald verlor sich halbkreisförmig im Dunkel, bevor die Lichter von Salzdetfurth auftauchten.
    Bloch verschwendete keinen unnötigen Blick nach draußen. Sein Gehirn lief auf Hochtouren.

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