Deutschlehrerin
Kurz nachdem sie das Gymnasium begonnen hatte, verließ ihr Vater, der sie als Einziger bei ihrem Wunsch, eine höhere Schule besuchen zu dürfen, unterstützt hatte, die Familie. Ihre Mutter hätte es gerne gesehen, wenn sie arbeiten gegangen wäre und ihr Miete gezahlt hätte und ließ keine Gelegenheit aus, ihr zu zeigen, dass sie nichts von den »Hochstudierten« hielt. Also jobbte Mathilda als Babysitterin und Kellnerin, sooft es ihr die Schule erlaubte, um Kleidung und Schulsachen alleine finanzieren zu können. Von ihrer Mutter erhielt sie nach dem fünfzehnten Geburtstag keinen einzigen Schilling mehr.
Nach der Matura zog sie nach Wien, um zu studieren, und besuchte Mutter und Bruder nur zwei bis drei Mal im Jahr. Jedes Mal stellte die Mutter ihr mit verkniffenem Mund den Gugelhupf und die Tasse Kaffee vor die Nase und saß dann mit verschränkten Armen ihr seitlich gegenüber, auf den laufenden Fernsehapparat starrend, man hatte einander nichts zu sagen.
Ihr Bruder Stefan war bei ihrem Auszug fünfzehn. Kurz darauf begann er eine Tischlerlehre, und mit siebzehn zog er ebenfalls von zu Hause aus. Beide eher introvertiert, verstanden sie sich als Jugendliche nicht schlecht, als Kind war Mathilda sehr eifersüchtig auf ihn gewesen, da er der erklärte Liebling der Mutter gewesen war. Beide wollten sie der schäbigen, muffigen Wohnung entfliehen und in ihrem Leben alles ganz anders machen als die Eltern, was Mathilda allerdings Stefan nicht zutraute, er war ruhig, zu ruhig, außerdem sehr langsam, was Denken und Lernen betraf, gänzlich uninteressiert an irgendeinem Wissensgebiet. Sie dachte oft, er würde als behäbiger, dicker, fauler Mann vor dem Fernseher enden wie die Mutter und stellte sich das plastisch vor, Stefan mit einer Bierflasche in der Hand, rülpsend und furzend, eine ebenso ungepflegte Freundin an seiner Seite, die fortwährend mit ihm keifte, weil er arbeitslos war.
Mit Genugtuung hatte sie diese Bilder vor Augen, sie alleine würde es schaffen, Mamas Liebling nicht, sie würde es ihr zeigen, ihr, die sie als Jugendliche laufend beschimpft hatte, sie solle sich nichts einbilden auf das Gymnasium, sie würde trotzdem als Putzfrau oder Nutte enden, denn diejenigen, die hoch hinaus wollten, fielen ganz tief. Eines Tages würde sie – ganz gepflegte Dame – ihre Mutter in ihr großes, luxuriöses Haus einladen, sie würden gemeinsam zu Abend essen, ihr gebildeter, freundlicher Mann und ihre gut erzogenen, hübschen Kinder an ihrer Seite, das Hausmädchen still servierend, die Mutter ganz blass vor Neid.
Auf diesen einen Moment in der Zukunft war Mathilda in ihrer Jugend fixiert, auf ihn würde sie hinarbeiten.
E-MAILS, DIE MATHILDA UND XAVER EINANDER SCHREIBEN, BEVOR SIE EINANDER WIEDERSEHEN
Gesendet: 26. Februar 2012
Von: Xaver Sand
An: M. K.
Du bist dran!
Acht Stunden später
Von: M. K.
An: Xaver Sand
Lieber Xaver!
jeden Tag fahre ich mit meinem Golf zur Schule, wo ich Deutsch und ein paar wenige Stunden Englisch unterrichte. Seit dreißig Jahren bin ich Lehrerin und ich mag meine Arbeit immer noch. Selbst nach einer so langen Zeit kann ich mir keinen anderen Beruf vorstellen. Viele Bekannte wollen mir das oft nicht glauben, du vielleicht auch nicht, doch es ist die Wahrheit.
Die Routine empfinde ich nicht als lästig oder langweilig, sondern vielmehr als wohlig. Sie gewährt mir Freiheiten und verleiht mir Sicherheit. Ich betrete die Schule gern und fühle mich in den Klassen einfach nur gut. Und nicht nur das, ich brauche das Leben, das die Schule mit sich bringt, um mich herum. Ich klammere mich daran, an den Lärm der Jugendlichen in den Pausen, das Diskutieren über Literatur in den Stunden, die Gespräche mit den Kollegen. Ich könnte nicht alleine in einem Büro vor mich hin arbeiten. Es gibt Tage und Wochen, vor allem im Winter, in denen ich mein Privatleben als dermaßen vereinsamend empfinde, ich will mich nicht auch noch in der Arbeit einsam fühlen. (Ich wette, du langweilst dich jetzt beim Lesen.)
Mein Tagesablauf ist an den Wochentagen immer derselbe: Bis um halb zwei unterrichte ich, zu Mittag esse ich in der Schulkantine oder richte mir zu Hause eine Kleinigkeit her, am Nachmittag arbeite ich im Garten oder gehe spazieren oder wandern, je nach Jahreszeit, und am Abend bereite ich meine Stunden vor und korrigiere Schularbeiten und Hausaufgaben. Eine Zeit lang gewöhnte ich es mir an, am Nachmittag ein bisschen zu schlafen, doch es tat mir nicht gut. Ich wachte nach
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