Deutschlehrerin
der Flucht behilflich sein. Schließlich schlafen sie noch einmal miteinander, an die Ausschweifungen der Nacht kann er sich nicht erinnern. Zu Mittag verlässt er das Zimmer und fährt nach Hause, wo seine Geliebte auf ihn wartet, von seiner Frau wurde er schon vor Jahren geschieden. Seine Geliebte überrascht ihn mit einer kleinen Reise, das Auto steht schon vor der Tür, die Sachen sind gepackt. Die beiden fahren in die Berge, an die russische Prostituierte denkt der Konzernmanager nicht mehr.
Mathilda liebte diesen Roman von allen fünf Romanen am meisten, da ihm Schnitzlers Reigen als Vorbild gedient hatte und für sie dieses literarische Vorbild die Eintrittskarte in die Beziehung zu Xaver symbolisierte. Wäre Schnitzlers Reigen in jener Vorlesung im Mai 1980 nicht besprochen worden, hätte Xaver sie nie angesprochen, um sie nach einem Blatt Papier und einem Kugelschreiber zu bitten; Mathilda fühlte sich seither dem Wiener Arzt und Literaten besonders verbunden.
MATHILDA ERZÄHLT XAVER EINE GESCHICHTE
Als die Sommerferien zu Ende waren und ich wieder unterrichten musste, war ich angespannt, weil ich nicht wusste, wie mein Doppelleben funktionieren würde. Ich musste ihn nun jeden Tag für viele Stunden sich selbst überlassen. Nur nachmittags, abends, in den Nächten und am Wochenende konnte ich bei ihm sein und auch das nicht immer. Ich hatte manchmal im Garten zu tun, ich musste einkaufen gehen und vor allem hätten sich Silvia und meine Arbeitskollegen gewundert, wenn ich gar nichts mehr mit ihnen unternommen hätte. Aufsehen wollte ich unbedingt vermeiden, deshalb behielt ich unsere Leserunden, Wanderungen, Theaterabende bei. Einmal kam nämlich die Polizei vorbei und stellte mir Fragen, sie zogen aber schon nach einer halben Stunde wieder ab.
Es funktionierte im Großen und Ganzen wie am Schnürchen. In den Stunden, in denen ich weg war, durfte er auf einem Kindersender Filme ansehen, wie immer ohne Ton. Er machte das mit einer Konzentration, als wäre er hypnotisiert. Mit riesigen Augen starrte er in den Apparat und bewegte seinen Oberkörper sanft vor und zurück. Die Zeichentrickfiguren oder Menschen, die laufend den Mund bewegten, ohne dass ein Ton dabei herauskam, imitierte er. Er saß da wie ein Fisch, der verzweifelt nach Luft rang. Auf der Kommode lagen ständig Mal- und Bastelsachen bereit, die er sich nehmen konnte, wann er wollte. Es lief perfekt und meine Angespanntheit ließ schnell nach. Ich war ausgeglichen.
Xaver: Die Geschichte, die du mir da erzählst, wird ja immer unheimlicher.
MATHILDA UND XAVER
Jeder Mensch trägt in sich ein Motiv, ein Thema, das die Partitur und Melodie seines Lebens prägt. Meistens ist es so, dass dieses Motiv stark verwoben ist mit der Herkunft und sich dann über das gesamte Leben ausbreitet und stärker wird. Man schafft es nicht, davon loszukommen, ganz egal, wie sehr man sich bemüht, es zumindest blasser werden zu lassen. Manchen Menschen ist ihr Lebensthema durchaus bewusst, zumindest in gewissen Lebensphasen, manchen wiederum nicht, oft deshalb nicht, weil sie nicht in der Lage sind, es sich einzugestehen. Und oft umspielt ein zweites Motiv das erste und gibt ihm die besondere, persönliche Note.
Welche Motive gibt es? Inges Motiv zum Beispiel war eindeutig die Treue , sie lebte sie bis zum Tod und darüber hinaus. Sie war ihrem Mann Thomas treu, er war ihr erster und einziger Geliebter das ganze Leben lang, tatsächlich schenkte sie keinem anderen Mann je einen Gedanken oder einen Blick, und sie war ihrem Sohn treu, für den sie alles tat. Am stärksten jedoch war ihre Treue gegenüber ihren Vorfahren und dem Elternhaus, das ihre Vorfahren ihr anvertraut hatten. Kurz vor ihrem Tod gründete sie kurz entschlossen zusammen mit einer alten Freundin eine Stiftung – sie war Stifterin und Stiftungsvorständin in einem –, und das Vermögen der Stiftung bestand einzig und allein aus dem heruntergekommenen riesigen Haus Schuroth. Nutznießer war Xaver und seine Familie, falls er eine gründen sollte, und Zweck war, dass er das Haus zeitlebens nicht verkaufen durfte, denn das war Inges größte Sorge: dass ihr Sohn es sofort nach ihrem Tod verscherbeln würde, und das wollte sie mit allen Mitteln verhindern. Nach seinem Tod hätte er das Haus nur einem seiner Kinder vermachen dürfen, falls er jedoch keine Nachkommen zeugen sollte, sollte es eine Autorenvereinigung erhalten. Inges zweites Motiv war eindeutig Härte , zu sich selbst und gegenüber
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