Deutschlehrerin
stirbt Anna an einem Gehirnschlag, und ein halbes Jahr später entschließt Richard sich, in die USA zu reisen, um herauszufinden, was aus Dorothy wurde. Der alte Mann sitzt im Flugzeug, schläft ein und träumt davon, dass er als junger Mann im Hafen von New York ankommt, Dorothy ihm entgegenläuft und ihn stürmisch umarmt.
Mathilda: Und? Sieht er sie wieder? Was ist aus ihr geworden?
Xaver: Der Schluss bleibt offen.
Mathilda: Das ist ja gemein!
MATHILDA UND XAVER
Im Alter von neun Jahren hatte Xaver bei einem landesweiten Aufsatzwettbewerb, der in den Volksschulen ausgeschrieben wurde, mitgemacht und gewonnen; das Thema des Wettbewerbs lautete »Mein Traum«. Fast alle Kinder, die mitmachten, waren Mädchen und bereits in der vierten Klasse, Xaver saß erst in der dritten. Während die meisten Kinder Beschreibungen einer friedlichen Welt, in der es keinen Hunger und keine Not gab, verfassten oder von einer Weltreise träumten, war er der Einzige, der eine Fantasygeschichte schrieb. Seine Geschichte trug den Titel Im Reich der nackten Engel und handelte von einem gigantischen unterirdischen Reich in den Bergen, in dem die – nackten – Schutzengel der Menschen hausten, und in das ein kleiner Junge plötzlich Zutritt bekam. Der Junge durfte den Engeln bei ihrer Arbeit zusehen und sie – und die gesamte Menschheit – schließlich vor dem Teufel retten.
Bei Mathildas erstem Besuch in Schuroth kramte Inge den Aufsatz hervor und gab ihn ihr zu lesen. Mathilda durfte ihn nach Wien mitnehmen und davon eine Kopie machen, beim nächsten Besuch gab sie Inge den Aufsatz zurück. Viele Jahre später, als ein Schüler eine großartige Fantasygeschichte über ein Engelsreich als Schularbeit verfasste, erinnerte Mathilda sich an Xavers Aufsatz und holte ihn hervor.
Es war verblüffend, wie ähnlich sich die beiden Geschichten waren, Xavers war zwar kindlicher, doch er war beim Verfassen auch um vier Jahre jünger gewesen als Mathildas Lieblingsschüler Philipp Kumpitsch. Diese Ähnlichkeit der Aufsätze hielt Mathilda für einen Wink des Schicksals, obwohl sie nicht an Schicksal glaubte, und sie begann mit den beiden Aufsätzen gedanklich zu spielen und überlegte sich detailliert eine Geschichte über ein unterirdisches Reich der Engel, in das plötzlich Jugendliche Zutritt bekommen und eine Menge Abenteuer bestehen müssen, um dieses Reich und die gesamte Menschheit vor dem Satan zu retten. Als sie Xaver davon erzählte und ihm den Vorschlag machte, sie zu schreiben, lachte er zuerst darüber, er sei doch kein Jugendbuchautor, er schreibe ernsthafte Romane für Erwachsene, wehrte er ab, bis er sich schließlich von ihrer Leidenschaft anstecken ließ. In den folgenden eineinhalb Jahren schrieben sie gemeinsam die drei Jugendbücher Engelsflügel, Engelskind und Engelsblut und verstanden sich dabei so gut wie schon lange nicht mehr. Alle Beziehungsprobleme schienen in den Hintergrund gerückt, sie erreichten eine Nähe, die sie jahrelang nicht mehr gespürt hatten.
Er hatte Glück gehabt, so erzählte Xaver, dass man das Jahr 1967 schrieb, zehn Jahre früher hätte man ihn für seine Geschichte über nackte Engel wahrscheinlich bestraft. Die besten dreißig Aufsätze wurden gedruckt und das Buch mit dem Titel Was unsere Kinder träumen wurde bei einem Festakt der Öffentlichkeit, sprich den stolzen Eltern und Lehrern, vorgestellt. Nach endlos langen Reden der Verantwortlichen durften die drei Kinder, die die besten Aufsätze geschrieben hatten, diese vor dem Publikum vorlesen. Xaver war nach zwei Mädchen der Dritte, der hinter einem riesigen Mikrofon stehend seine Geschichte vorlas. Mit seiner braunen Schnürlsamthose, die ein bisschen zu kurz war, seinem grün-orange karierten Hemd und seinen schief geschnittenen Stirnfransen stand er da und las seine Geschichte, laut, eine Spur zu langsam und wahnsinnig stolz. Inge schilderte diese Szene bis ins letzte Detail und Mathilda, deren Herz beim Zuhören vor Liebe überschäumte, konnte den kleinen Xaver richtig vor sich sehen.
Seither wollte er Schriftsteller werden. Seine Eltern ermutigten ihn durchaus, denn Thomas, sein Vater, der Hauptschullehrer war, sah sich eigentlich als Künstler, er schrieb Gedichte, Erzählungen, Novellen, Romane, die aber meistens in der Schublade endeten. Mit fünfundvierzig hatte er endlich das Glück, einen kleinen Verlag zu finden, der dann ein dünnes Büchlein mit seinen Gedichten herausgab. Das Buch verkaufte sich schlecht, nur an die
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