Deutschlehrerin
die Länge der Kette und den Standort des eingemauerten Ringes sehr genau. Er muss einen Meter vor der Tür stehen bleiben. Wenn er seine Arme ausstreckt, berührt er die geöffnete Tür mit den Fingerkuppen und kann hinaus in meinen Keller sehen. Wenn ich gehe, steht er mit ausgestreckten Armen da und lässt seine unartikulierten Schreie auf mich niederprasseln. Außerdem begann ich, ihm Sedativa zu verabreichen, da war er ungefähr zehn. Es ging einfach nicht anders.
Ich schlafe nicht immer bei ihm, so wie ich es früher tat, als er klein war. Wenn die gemeinsamen Stunden für mich aufreibend und anstrengend waren, verlasse ich ihn. Nur wenn wir einen ruhigen, angenehmen Abend hatten, lasse ich mich von ihm an der Hand zum großen Bett ziehen, und das ist so ungefähr drei bis vier Mal in der Woche. Ich genieße es, ihn im Schlaf zu beobachten. Ich streichle seine schwarzbraunen Locken, die so dicht und kaum zu bändigen sind. Immer noch schläft er mit seinen alten zusammengeknüllten Sachen, ohne sie kann er nicht einschlafen. Er presst sie fest an seinen Hals, an seine Wangen. Es sind das blaue T-Shirt mit dem Traktor darauf und die Jeanslatzhose, die er trug, als ich ihn heimholte.
Xaver: Ein blaues T-Shirt mit einem Traktor darauf? Eine Jeanslatzhose? Das …, das waren die Sachen, die Jakob getragen hat, als er entführt wurde!
Mathilda: Ja.
Xaver: Was erzählst du mir da die ganze Zeit? Die Ich-Figur holt ein Kind heim, lässt es ohne Sprache aufwachsen, bindet es mit einer Eisenkette an, vögelt mit ihm, obwohl er erst sechzehn ist?
Mathilda: Er wird erst im Oktober sechzehn.
Xaver: Du willst damit sagen, du hast Jakob entführt??
Mathilda: Dein Sohn ist ein guter Liebhaber.
Xaver: Hör auf damit, Mathilda, du hast eine kranke Fantasie!! Du hast Jakob nicht entführt!!
Mathilda: Warum bist du dir da so sicher?
Xaver: Okay, du hast gewonnen, geht es dir darum? Du hast die wesentlich bessere Fantasie als ich! Eigentlich hättest du die Schriftstellerin sein sollen. Zufrieden?
Mathilda: Mehr hast du dazu nicht zu sagen? Du willst nicht die Polizei verständigen? Ihn gar nicht sehen?
Xaver: Du weißt aus den Medien, welche Sachen er bei der Entführung getragen hat!
Mathilda: Ich weiß es nicht nur aus den Medien.
Xaver: Ich glaube dir kein Wort!!
Mathilda: Wieso glaubst du mir kein Wort? Sag es mir, Xaver! Wieso reagierst du so? Jeder andere Mann in deiner Situation würde sich diese Pistole hier in der Vitrine schnappen, die Polizei anrufen und in den Keller laufen oder umgekehrt!
Xaver: Mir kommt das Ganze dermaßen absurd vor!! Als hätte ich einen Albtraum!
Mathilda: Du hast seit vierzehn Jahren Albträume, nicht wahr?
Xaver: Wo soll er sein?
Mathilda: Unter uns. In Tante Marias Bunker.
Xaver: In Tante Marias Bunker??
Mathilda: Ja. Ich hab dir doch von dem Bunker erzählt. Sie hat ihn sich nach der Katastrophe in Tschernobyl bauen lassen.
Xaver: Du hast eine kranke Fantasie!
Mathilda: Vermutlich malt er gerade.
Xaver: Du bist krank!
Mathilda: Du wiederholst dich. Willst du ihn nicht sehen?
Xaver: Beschreibe ihn mir!
Mathilda: Er ist groß, schon einen Meter fünfundsiebzig, und er wiegt sechzig Kilo, ich messe und wiege ihn jede Woche. Er sieht dir ähnlich, Xaver, er hat die gleichen dunklen Locken wie du und die gleiche schlaksige Figur.
Xaver: Er sieht mir nicht ähnlich!!
Mathilda: Warum? Weil er als Kind blond war? Seine Haare sind dunkel geworden.
Xaver: Hör jetzt auf mit diesem Spiel!! Wir haben uns gegenseitig Geschichten erzählt wie früher, ich gebe zu, deine war sehr gruselig und spannend, aber jetzt will ich wirklich aufhören!!
Mathilda: Er hat deine Wangengrübchen.
Xaver: Er hat nicht meine Wangengrübchen!! Hör auf jetzt!! Stopp! Cut! Unser Spiel ist aus, mir ist das jetzt eindeutig zu viel! Die Geschichten sind fertig erzählt!
Mathilda: Sind sie nicht.
Xaver: Wieso tust du das, Mathilda?
Mathilda: Du meinst, warum ich ihn entführt habe? Ist das Motiv nicht klar? Kaum warst du erfolgreich, erfolgreich wegen mir, wegen meiner Idee, warst du weg! Weg! Einfach verschwunden! Ich wollte mich rächen an dir! Das Kind, das ich mir so sehr gewünscht habe, hast du einer anderen gemacht!
Xaver: Mathilda, es tut mir alles so leid, ich habe dir das schon oft genug gesagt. Es tut mir leid! Aber Jakob ist nicht in deinem Keller! Und wenn du weiterhin Femme fatale spielen willst, bitte, nur zu, das kannst du alleine machen, ich gehe jetzt ins Hotel!
Mathilda:
Weitere Kostenlose Bücher