Dexter
Kissens lauerte, aber nicht zu mir kam. Über den Flur hörte ich Cody und Astor, die noch immer mit der Wii spielten, auf Ritas Ermahnung hin ein wenig leiser, da ich, wie sie ihnen versicherte, zu schlafen versuchte – und ich versuchte es wirklich, ehrlich, aber mir war kein Erfolg beschieden.
Gedanken stapften in langsamer Parade durch meinen Verstand. Ich dachte an die vier am anderen Ende des Flurs: meine kleine Familie. Die Vorstellung schien immer noch bizarr. Dex-Daddy, Beschützer und Ernährer, Familienvater. Noch bizarrer war, dass sie mir gefiel.
Ich dachte an meinen Bruder. Ich wusste nach wie vor nicht, was er im Sinn hatte, warum er immer wieder bei uns auftauchte. Konnte es sein, dass es ihn wirklich nach einer Art Familienanbindung verlangte? Schwer vorstellbar – andererseits hätte ich das vor Lily Anne von mir auch nicht geglaubt, und doch lag ich hier, schwor allen dunklen Freuden ab und schmiegte mich an den Busen einer echten Familie. Vielleicht sehnte sich Brian nach denselben einfachen menschlichen Banden. Vielleicht wollte auch er sich ändern.
Und vielleicht klatschte ich dreimal in die Hände, und die Fee Tinkerbell erwachte wieder zum Leben. Das war in etwa ebenso wahrscheinlich; Brian war sein ganzes Leben auf dem Dunklen Pfad gewandert, er konnte sich nicht ändern, nicht so grundlegend. Er musste andere Gründe dafür haben, sich in mein Leben zu drängen, und früher oder später würden sie offenbar werden. Ich glaubte nicht, dass er meiner Familie etwas antun wollte – dennoch würde ich ihn im Auge behalten, bis ich verstanden hatte, worauf er aus war.
Und selbstverständlich dachte ich an Samantha und ihre Drohung, alles zu erzählen. War diese Drohung nur geboren aus der Verzweiflung, am Leben zu sein, gesund und unverspeist? Oder würde sie wirklich reden, aller Welt ihre rachsüchtige Version der Ereignisse auftischen? War das unheilvolle Wort »Vergewaltigung« erst einmal gefallen, würde sich alles ändern, und zwar keineswegs zum Besseren. Dann hieß es: Dexter auf der Anklagebank, zu Brei gemahlen von den Mühlen eines ungerechten Systems. Es war unvorstellbar schrecklich und maßlos ungerecht. Jeder, der mich nicht kannte, würde mich für einen sexsüchtigen Wahnsinnigen halten. Mein Wahnsinn ist zwar stets von vollkommen anderer Art gewesen, aber Leute glauben an Klischees, und »älterer Mann und Teenager« war eines. Mich traf absolut keine Schuld – doch wer würde mir glauben? Ich konnte das Zwinkern und Feixen regelrecht vor mir sehen. Ich hatte die Drogen nicht bewusst genommen … Würde sie mich wirklich für eine Situation bestrafen, in der ich das eigentliche Opfer gewesen war? Schwer zu sagen, aber ich hielt es durchaus für möglich. Und das würde mein sorgfältig konstruiertes Leben vollständig zerstören.
Doch was sollte ich dagegen tun? Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, dass sie umzubringen die Lösung meiner Probleme bedeutete – und sie würde sogar kooperieren, wenn ich ihr versprach, ein bisschen an ihr herumzuknabbern, ehe ich sie auslöschte. Was ich selbstverständlich nicht tun würde – igitt! –, doch wenn eine kleine Lüge jemanden glücklich machte, was sprach dagegen?
Doch es würde ohnehin nicht dazu kommen. Ironischerweise konnte ich Samantha nicht umbringen, gleichgültig, wie dringend wir uns beide danach sehnten. Nein, ich hatte mir kein Gewissen wachsen lassen; es stünde nur im völligen Gegensatz zum Cody Harry und war außerdem viel zu gefährlich, da sie momentan im Rampenlicht stand, viel zu dicht überwacht wurde, als dass ich mich gefahrlos hätte nähern können. Nein, es war zu riskant. Ich musste mir eine andere Möglichkeit einfallen lassen, mein Leben zu retten.
Aber welche? Die Lösung entzog sich mir ebenso wie der Schlaf, und die Gedanken taumelten weiterhin bleischwer über den sumpfigen Boden meines nach Schlaf hungernden Gehirns. Zirkel – wen scherte es, ob sie von einem Mann oder einer Frau geleitet wurden? Kukarov war tot, der Zirkel zerstört.
Abgesehen von Bobby Acosta. Vielleicht konnte ich ihn ausfindig machen und Samantha an ihn verfüttern. Und ihn dann Deborah übergeben. Es würde beide aufmuntern.
Debs hatte eine Aufmunterung dringend nötig; sie hatte sich in letzter Zeit auffällig merkwürdig verhalten. Hatte das etwas zu bedeuten? Oder war das nur der moralische Kater nach der Stichverletzung?
Stiche – würde es mir wirklich gelingen, meinen dunklen Freuden
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