Dezembergeheimnis
über den imaginären Noel Clarke, aber auch um den Fakt, dass sie wirklich ihre beste Freundin war. Diese große, nicht gerade leicht einzuschüchternde Frau war seit zwei Jahren stets an Leas Seite gewesen und schien seitdem immer wenigstens zu ahnen, was in ihr vorging. Und eigentlich dachte Lea auch, dasselbe umgekehrt behaupten zu können.
Sallys rasanter Abgang am vergangenen Abend wollte ihr deswegen nicht so ganz in den Kopf. Nur wenige Stunden zuvor hatte sie in ihren Diskussionen einen Dickschädel aufgefahren, auf den jeder Stier neidisch geworden wäre und plötzlich waren all ihre Gegenargumente wie ausradiert. Doch vielleicht sollte sie über die Entwicklung der Dinge auch einfach dankbar sein, anstatt sie in Frage zu stellen.
In der Aussicht auf den kommenden Abend konzentrierte sich Leas Hauptaugenmerk bald auf ihr bisheriges Liebesleben. Oder besser: Bisher nicht existentes Liebesleben. An diesem Abend würde sie das erste Mal mit einer Verabredung auftauchen, die ihr nicht von irgendeiner Freundin, wahlweise Mutter, organisiert worden war. Wie sie Noel nun seit seiner Ankunft unterschwellig begreiflich machen wollte, belief sich ihr Erfahrungswert im Gebiet der erotischen Bettgymnastik auf ein Minimum.
Vielleicht war ihr Wunschzettel doch gar nicht so unbegründet gewesen.
Sie drehte den Kopf, bis ihr Blick auf den Nachttisch fiel, auf dem ein Bild von ihr und ihrer besten Freundin stand. Lächelnd drückte sie sich beide Hände auf die Brust, die vor aufkeimender Vorfreude kribbelte.
Ihre Gedanken wanderten zu Maria und deren Nachbarn und ob die beiden wohl schon so weit waren, das neue Jahr gemeinsam einzuläuten, und wenn ja, ob sie es auf der Party tun würden. Dann dachte sie an ihre Eltern und bedauerte es sogar fast ein wenig, dass sie Silvester auf verschiedenen Kontinenten verbringen würden. Dabei machte sie sich eine mentale Notiz, dass sie noch Kartoffelsalat für das Neujahrsessen machen musste.
Auch ihre ehemaligen Kollegen vom Verlag stahlen sich ihr in den Kopf und sie kam nicht umhin, festzustellen, wie anders alles vor eineinhalb Jahren noch gewesen war. Nicht nur, dass sie ihre gute Stelle verloren und ihre alte Wohnung hatte aufgeben müssen, nein, seit knapp einer Woche fing auch noch ein Mann an, ihr komplettes Leben auf den Kopf zu stellen.
Ihres; das des kleinen, unerfahrenen, ewigen Singles, Lea Margarete Wegener!
Je öfter sie diesen Satz in Gedanken wiederholte, desto absurder klang er. Sie seufzte.
Abzuwarten, bis dieser Mann dann endlich auch so weit entwickelt wäre, um als halbwegs glaubhafter Mensch durchzugehen, wäre viel –
viel
– einfacher, wenn er nicht schön und gutaussehend wäre und alle Qualitäten bezüglich Äußerlichkeiten ihres Traummannes besäße. Die Haare, die ihre Finger geradezu danach zucken ließen, durch sie hindurch zu fahren. Die hohen Wangenknochen, die starke Kinnlinie, die markanten Augen … Noelvereinte einfach alles, was ihr Herz begehrte.
Sie seufzte erneut.
Schon wieder hatte er es geschafft, ihre Gedankengänge innerhalb von Sekunden auf sich zu lenken. Es war, als wäre sie seit seinem Auftauchen nicht mehr in der Lage, ihrem restlichen Leben weiter die Aufmerksamkeit zu schenken, die es sonst immer bekommen hatte.
Stöhnend rieb sie sich das Gesicht und setzte sich auf. Es hatte keinen Sinn mehr, sich länger vor dem angebrochenen Tag zu verstecken. Noel und die Silvesterparty warteten zusammen mit Sally und dem neuen Jahr darauf, dass sie endlich ihren Hintern aus dem Bett schob.
Schnell hüpfte sie in neue Kleidung – wegen Noel nicht in die üblichen Schlabber-Couch-Klamotten, sondern in Jeans und T-Shirt – und verließ das Schlafzimmer.
»Morgen, Noel! Ich bin im Bad«, rief sie knapp und hastete durch den Flur, ehe er sie ungewaschen sah. Als sie das Badezimmer wieder verließ, stand Noel bereits vor der Tür. Lea musste zugeben, dass er in Persona ihrem Traummann sogar noch mehr entsprach als in ihrem Kopf.
»Guten Morgen, Lea.« Er grinste auf sie herunter. »Hast du gut geschlafen?«
»Perfekt«, log sie, da sie keinen Grund darin sah, ihn in ihre peinliche Gedankenwelt einzuweihen. »Und du? Kann man auf dieser Couch überhaupt schlafen?«
»Ganz wunderbar.«
»Bist du sicher?«, hakte sie nach, während sie in die Stube lief. »Wir können auch sehen, ob wir ein Gästebett oder so was für dich besorgen können?«
»Besorgen?« Noel dackelte ihr hinterher.
Lea zuckte mit den Schultern und
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