Dezemberglut
viel mehr als dieses erschreckte. Eine sch o nungslose Getriebenheit. Etwas, das sein Inneres verströmte , das ich nicht sah, aber spürte. Intensiv. Seine innere Hölle. Von jemandem wie ihm konnte ich w e der Verständnis noch Unterstützung erwarten. Dennoch war er mein Mentor. Ausgerechnet. Was hatte sich Julian nur dabei gedacht?
Daniel, dachte ich erleichtert. Daniel war nett und freundlich. Sicher wartete er schon im Parkhaus, um mich nach Schwanenwerder zu fahren. Ich ignorierte den Aufzug und nahm die Treppe. Während ich die Stufen nach oben lief, stellte ich mir wirkungsvolle Todesarten für Damian vor. Es waren Vorstellungen voll von Licht und Sonne, und eine gefiel mir besser als die andere.
Das Kampftraining begann natürlich ohne mich. Später, im Wilhelmina, fragte ich Tiffany, was ich verpasst hatte.
Sie zuckte erschrocken zusammen und schüttelte heftig den Kopf. „Damian hat schon gesagt, dass du mich fragen wirst. Er hat auch gesagt, dass ich mit dir nicht darüber sprechen darf und er es merken würde, wenn ich es trotzdem tue.“ Sie blickte ängstlich nach links und rechts und auf den glänzenden Fußboden, als könnte Damian wie ein Springteufel daraus hervorschießen.
Ich verdrehte die Augen. Damian kannte mich besser, als ich dachte. Er wusste, dass ich oft mit Tiffany zusammen war . „Ich will dich nicht in Schwierigkeiten bringen.“
Sie nickte dankbar. „Es ist wirklich nicht halb so interessant, wie du denkst“, versicherte sie mir.
Ich zuckte die Achseln. Es wäre mehr als unfair, Tiffany weiter zu löchern. Ich wusste es und Damian offensichtlich auch.
Seit ich regelmäßig am Fitness training teilnahm, fühlte ich mich stärker. Ich aß mehr und konnte besser schlafen. Zwar hatte i ch immer noch Albträume, aber längst nicht mehr so häufig. Mein Schlaf hatte sich verändert, war ruhiger, tiefer geworden. Tagsüber ging ich oft in dem winterlichen Park spazieren, der die Villa umgab und bis zum Wannsee reichte. Ich stand am Ufer, schaute auf das graue, kalte Wasser und dachte darüber nach, was nun werden sollte.
Nicht zum ersten Mal überlegte ich zu fliehen, um die Welt der Vampire einfach hinter mir zu lassen. Bei Tag. Aber ich wusste, das Gelände wurde rund um die Uhr bewacht. Und was hätte ich tun sollen? Zur Polizei gehen? Sagen, diese sel t same Leiche, die sie gefunden hatten und deren DNA sie mit der Mordserie in Verbindung bringen konnten, war in Wirklichkeit Gregor, ein vierhundert Jahre alter Vampir? Und die Behauptung, Vampire gingen nach ihrem Tod in Flammen auf, sei nicht wahr?
Natürlich würde ich das nicht tun. Niemand würde mir glauben. Ich würde Schwanenwerder nicht verlassen. Nicht, weil ich mein Wort gegeben hatte, denn daran fühlte ich mich nicht gebunden. Der Hauptgrund war meine Angst. Wenn ich fliehen würde, wo sollte ich hin? Wie sollte es weitergehen? Außerdem war ich mir sicher, dass mich Damian finden und bestrafen würde, falls ich mich nicht an die Absprache mit Julian hielte. Ich ballte die Hände in den Taschen zu Fäusten.
Früher hatte ich diese Jahreszeit geliebt. Den wolkenverhangenen Himmel und den Wind in meinem Gesicht, die Blätter, die von den Bäumen gerissen wurden und Straßen und Wege bedeckten. Ob ich je wieder Herbstblätter sehen und nicht an Tod denken musste? Der Wind riss den Himmel auf, ich schaute zu, wie er Wolken aufwühlte und zerfetzte. Als mir kalt wurde, drehte ich mich um und ging zurück zum Haus.
Ich wurde jeden Abend abgeholt, meistens von Daniel, und zur Zentrale gefa h ren, wo ich mit den Siebzehn trainierte und Zeit verbrachte, bis ich wieder zurückg e bracht wurde.
Inzwischen hätte ich lieber in der Zentrale übernachtet, weil ich mich auf Schwanenwerder so allein fühlte. Doch als ich Sarah fragte, erteilte sie mir eine Absage. Damian sei der Ansicht, dass die Siebzehn noch nicht gefestigt genug seien und ich Blutgier bei ihnen wecken würde, sollte ich unter ihnen leben.
Ich seufzte verdrossen. Damian. Immer wieder Damian . Inzwischen fühlte ich mich bei den Siebzehn absolut sicher, es waren die Diskussionen mit ihm , die ich fürchtete. Immer wieder war er es, der mir Steine in den Weg legte. Wenn er darin seine Aufgaben als Mentor sah – und das konnte ich mir gut vorstellen – musste er sehr zufrieden sein mit seinem Job. Ich durfte keine einzige Entscheidung ohne ihn treffen, dabei wurde es Zeit, mich mit meiner eigenen Welt, meiner eigenen Zukunft auseinanderzusetzen.
Weitere Kostenlose Bücher