Dezembersturm
setz dich zu mir auf die Bettkante. Du fährst in die Neue Welt und baust dir dort dein eigenes Leben auf! Doch versprich mir, dass du dich nicht von den Franziskanerinnen einkassieren lässt! Du sollst zwar in ihrer Obhut leben, bis du alt genug bist, um deinen eigenen Weg zu gehen. Ich will aber nicht, dass du Nonne wirst. Das ist genauso schlimm wie ein Dienstbote, nur dass du kein Geld bekommst, sondern für Gottes Lohn arbeiten musst! Dafür aber schicke ich dich nicht auf so eine weite Reise. Hast du das verstanden?«
»Ja, Herr Großvater«, sagte Lore verwirrt. Bisher hatte der alte Herr noch nie mit ihr über ihre Zukunft gesprochen, und so hatte sie eigene Pläne geschmiedet. Sie hatte nach Berlin gehen und dort als Lehrling bei einer Schneiderin arbeiten wollen, obwohl diese Stadt so unendlich weit von ihrer Heimat entfernt lag.
Bisher war sie nicht weiter als bis nach Heiligenbeil gekommen, einmal auch nach Zinten, und es schien ihr unvorstellbar, von hier wegzugehen, ohne die Möglichkeit zu haben, ihre Heimat wiederzusehen. Hier lagen die Gräber ihrer Lieben, in deren Mitte sie einmal glücklich gewesen war. Die Vereinigten Staaten waren nach allem, was sie darüber gehört und gelesen hatte, eine Mischung aus einer Märchenwelt und einem wilden Räubernest. Aber wenn der alte Herr wollte, dass sie eines Tages dorthin fahren sollte, musste sie es schweren Herzens tun.
Ihr Großvater befahl ihr nun näher zu treten und hängte ihr eine feine Goldkette um den Hals, an der ein kleines Kruzifix hing. »Das lag ebenfalls unter den Erinnerungsstücken, die Kord für mich sortiert hat. Es stammt von einer entfernten Verwandten, die unter meinem eigenen Großvater als billige Dienstbotin auf Trettin geendet ist.«
Dann schnaubte er, weil sie verblüfft auf das Schmuckstück starrte, und wies sie an, eine Reisetasche aus Wachstuch aus dem Schrank zu holen und diese zu öffnen. Als sie hineinsah, befand sich ein Mantel aus geteertem Segeltuch darin. Das musste der gewesen sein, den Kord genäht hatte. Für Lore war er viel zu groß, obwohl sie die meisten Mädchen ihres Jahrgangs um einen halben Kopf überragte.
»Den Mantel nimmst du mit und trägst ihn bei schlechtem Wetter, damit du nicht nass wirst und dich erkältest. Eine Seefahrt ist eine verdammt kalte und feuchte Angelegenheit, und ich will nicht, dass du unterwegs krank wirst, hörst du? Behalte den Mantel immer griffbereit und lass dich von niemandem überreden, darauf zu verzichten. Er soll dich in die Staaten begleiten, und du behältst ihn bei dir, bis du volljährig bist! Das ist ein Befehl, Mädchen! So, jetzt geh und pack deine Sachen. Schau, ob Elsie schon fertig ist. Gleich kommt einer von Wagners Fuhrknechten vorbei und holt euch ab. Fritz Wagner hat mir versprochen, dass sein Kommis Gustav euch zur Eisenbahnstation von Heiligenbeil bringen und dort euer Gepäck aufgeben wird, damit alles seine Richtigkeit hat. Von Heiligenbeil aus müsst ihr beide alleine weiterreisen. Aber da Elsie bereits mit der Eisenbahn gefahren ist, weiß sie, wie das geht. Außerdem helfen euch die Schaffner für ein kleines Trinkgeld gerne weiter, da mach dir mal keine Sorgen.
Bis auf den Pass stecken deine persönlichen Papiere in einer Tasche des Segeltuchmantels, zusammen mit noch ein paar nützlichen Kleinigkeiten. Ich habe Elsie die Pässe, die Fahrkarten unddas Geld in Obhut gegeben. Sie hat auch alle Fahrpläne und weiß, wo ihr umsteigen und welche Züge ihr nehmen müsst. Ihr dürft auf dieser Reise nicht trödeln, denn das Schiff geht schon in zehn Tagen von Bremerhaven ab.«
Wolfhard von Trettin legte eine kurze Pause ein und sah dabei seinen Freund Doktor Mütze spöttisch an. »Lore und Elsie werden übrigens nicht in einem schmutzigen Zwischendeck reisen, sondern erster Kajüte, unterer Salon. Das ist so etwas wie zweite Klasse bei der Eisenbahn. Das hat mich dreihundert Taler für meine Enkelin und hundertfünfzig für Elsie gekostet, die als Dienstbotin nur die Hälfte zahlen muss. So, Lore, nun lauf und tu, was ich dir gesagt habe! Dann kommst du noch einmal hierher und verabschiedest dich von mir!«
Lore fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Natürlich wollte sie irgendwann von hier fortgehen, aber erst nach dem Tod ihres Großvaters. Sie konnte ihn doch nicht einfach allein zurücklassen und auch nicht abreisen, ohne Abschied von den Gräbern ihrer Angehörigen genommen zu haben. Sie starrte auf sein rotes, unnatürlich lebhaft
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