Dezembersturm
Seufzer blickte sie das Mädchen an. »Es tut mir leid, aber du hast gehört, was die Freifrau gesagt hat. Ich darf dir keine weitere Arbeit geben. Dabei könnte ich dich und deine flinken Finger so gut brauchen! Zu Weihnachten wollen die meisten Damen neue Kleider, und jetzt werde ich einige von ihnen abweisen müssen.«
»Ich kann doch heimlich für Sie nähen, Madame«, flüsterte Lore, damit die anderen Näherinnen es nicht hören sollten. Wenn sie Malwines Kuratel entkommen wollte, benötigte sie diesen Verdienst.
Doch die Schneiderin schüttelte traurig den Kopf. »Das wage ich nicht. Freifrau von Trettin ist die tonangebende Dame in diesem Landkreis. Wenn sie mich schneidet, muss ich mein Geschäft aufgeben und als Näherin in die Dienste einer erfolgreicheren Couturière treten. Da kann ich gleich ins Wasser gehen!«
Da Lore schon öfter miterlebt hatte, wie Madame ihre Angestellten hetzte und sich auch nicht scheute, die Frauen mit einem Stock aus spanischem Rohr zu bestrafen, wenn diese Fehler machten, verstand sie, wovor die Schneiderin Angst hatte. Doch während sie selbst mit dieser Arbeit auch ihre Hoffnung auf ein eigenes Leben verloren hatte, würden die Damen der Gesellschaft auch weiterhin bei Madame arbeiten lassen, so dass diese sich trotz allem keine Sorge um ihr tägliches Brot machen musste.
Auf dem Weg zum katholischen Pfarrhaus schwor sie sich, niemals das Herrenhaus zu betreten, selbst wenn sie bei einem Bauern als Magd einstehen oder gar ins Armenhaus musste. In ihrem Innern wusste sie jedoch genau, dass die Behörden sie nach dem Tod ihres Großvaters unnachsichtig ins Gutshaus schleppen würden, da Ottokar von Trettin nun einmal als ihr nächster Verwandter galt.
Wie sie befürchtet hatte, kam sie zu spät zum Unterricht und musste unter den tadelnden Blicken des Priesters und dem Gekicher ihrer jüngeren Mitschülerinnen auf ihrem Stuhl Platz nehmen. Hochwürden Starzig sprach an diesem Tag wieder einmal über Heilige und ihr frommes Wirken. Seine Worte strömten an Lore vorbei, während sie verzweifelt darüber nachdachte, wie sie in den nächsten Monaten das Geld auftreiben konnte, das sie so dringend benötigte.
Nach dem Unterricht war sie froh, dem nach Weihrauch riechenden Pfarramt zu entkommen, und eilte zu Doktor Mützes Praxis. Sonst hatte dessen Frau ihr immer einen Imbiss vorgesetzt, bevor der Arzt sie nach Hause fuhr.
Doch an diesem Tag schien der Arzt es eilig zu haben, denn die Pferde waren bereits eingespannt, und er lief vor dem Haus hin und her, als brenne der Boden unter seinen Füßen. Bei ihrem Anblick verzog er das Gesicht zu einer kurzen, fast ein wenig abweisenden Grimasse. Doch seine Züge glätteten sich sofort wieder.
»Gut, dass du da bist, Mädchen. Dein Großvater sagte beim letzten Mal, dass wir heute früher kommen sollen.« Dann sah er, dass Lores Kiepe im Gegensatz zu den früheren Malen leer war, und hob verwundert die Augenbrauen. Fast schien es, als wolle er sie fragen, was dies zu bedeuten habe. Dann aber winkte er mit einer heftigen Handbewegung ab und half ihr auf den Wagen.
»Meine Frau hat dir von der Köchin ein paar Butterbrote bereiten lassen«, sagte er und drückte ihr ein Päckchen in die Hand, aus dem es verführerisch duftete.
Durch den Zusammenstoß mit der Freifrau von Trettin war Lore der Hunger vergangen. Da sie Doktor Mütze jedoch nicht kränken wollte, kaute sie mühsam auf den Broten herum und schluckte den letzten Bissen, als der Wagen bereits auf dem Forstweg zum Jagdhaus rumpelte.
Elsie erwartete sie bleich an der Haustür. »Wo bleiben Sie denn, Fräulein Lore? Sie sollen sofort zum gnädigen Herrn kommen! Beeilen Sie sich, er ist schon sehr ungeduldig!«
Erschrocken eilte Lore in das Zimmer ihres Großvaters. Der Arzt und Elsie folgten ihr auf dem Fuß. Wolfhard von Trettin lag in seinem besten Anzug auf dem Bett. Offensichtlich hatte er sich von Kord und Elsie ankleiden lassen. Die Fenstervorhänge waren geschlossen, und der alte Herr leistete sich den unerhörten Luxus von Kerzen und einem Glas Wein. Er lächelte sogar, was er schon seit Monaten kaum noch getan hatte.
Doktor Mütze machte ein besorgtes Gesicht, als der Kranke das Weinglas an seine unnatürlich roten Lippen führte und es in einem Zug austrank.
»Das solltest du bleiben lassen, Nikas. Das Zeug kann dein Tod sein!«
Lores Großvater lachte mit volltönender Stimme auf. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, trat Lore zum Nachttisch und gab das vom
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