Dezembersturm
zurücklassen zu müssen. Sie hatte den alten Herrn trotz seiner Strenge gerngehabt und gehofft, noch lange Jahre bei ihm bleiben zu können. Außerdem war er der Letzte ihrer Familie, dem etwas an ihr lag. Auch tat ihr in der Seele weh, nie mehr am Grab ihrer Eltern und Geschwister beten zu dürfen. Bei dem Gedanken begannen ihr die Tränen über die Wangen zu laufen. Sie fühlte sich wie ein entwurzelter Baum, der mit dem Hochwasser ins Meer gespült wurde, und konnte sich nicht vorstellen, in einem fremden Land neu anzuwachsen.
Mit tränenfeuchten Augen drehte sie sich um und starrte in die Richtung, in der sie das Jagdhaus wusste. Sie bildete sich ein, es erst vor wenigen Augenblicken verlassen zu haben. Doch der Forst hatte es längst ihren Blicken entzogen, und das hochbeladene Gefährt bog gerade ächzend und schwankend auf die Überlandstraße ein, die nach Heiligenbeil führte. Lore erhaschte noch einen letztenBlick auf ihr Heimatdorf mit seinen schlichten, reetgedeckten Katen. Dann blieb auch dieses hinter ihr zurück. Um sie herum gab es nur noch Wald und in der Ferne das Gutshaus von Trettin, in dem sie so viele schöne und zuletzt auch bittere Augenblicke erlebt hatte.
Es begann zu schneien, und schon bald lag das Land unter einer weißen Decke, die Lore an ein Leichentuch gemahnte. Da neben ihr der maulfaule Fuhrmann saß und Elsie und Gustav sie nicht in ihr Gespräch mit einbezogen, schlang sie die lederne Decke fester um die Schultern und begann aus altem Packpapier Silhouetten von Bäumen, Häusern und den Kutschpferden zu schneiden. Dabei verewigte sie auch die Profile ihrer drei Mitreisenden. Trotz des unbequemen Sitzes auf dem Kutschbock bot diese Arbeit ihren Händen und ihren wild flatternden Gedanken Ablenkung und würde ihr in der Fremde eine Erinnerung an die alte Heimat sein.
VI.
Als der Frachtwagen Heiligenbeil erreichte, war es bereits dunkel. Auch fuhr an diesem Tag kein Zug mehr in Richtung Danzig. Daher brachte Gustav seine beiden Schutzbefohlenen zu einem Gasthof, während der Fuhrmann den Wagen zu einem Nebengleis lenkte, an dem seine Fracht noch in der Nacht in einen Güterwaggon verladen werden sollte. Auch Lores und Elsies Gepäck wurde von einem Bahnbediensteten entgegengenommen, der hoch und heilig versprach, es rechtzeitig in den richtigen Zug bringen zu lassen.
Erst als sie den warmen Gasthof betraten, fühlte Lore die Kälte, die ihr während der Fahrt in die Glieder gekrochen war. Dahernahm sie den Becher Glühwein dankbar entgegen, den eine der Wirtsmägde ihr reichte. Das Getränk war zwar noch so heiß, dass sie sich die Zunge verbrüht hätte, aber sie vermochte wenigstens ihre klammen Finger an dem Becher zu wärmen.
»Ich habe Hunger«, maulte Elsie und sog den Duft ein, der aus der Küche zu ihnen drang.
Lore hingegen schüttelte es bei dem Gedanken an Essen. »Du kannst noch etwas zu dir nehmen, aber ich gehe lieber zu Bett. Wir müssen morgen sehr früh aufstehen, um rechtzeitig zum Zug zu kommen.«
»Keine Sorge, ich wecke euch schon!«, versprach Gustav und berührte Elsie am Arm. »Ich könnte auch noch einen Bissen vertragen. Wenn dir die Gaststube zu voll ist, sollten wir uns in ein kleines Nebenzimmer setzen. Dort können wir uns gemütlicher unterhalten, als wenn direkt am Nebentisch Skat geklopft wird.«
»Das ist eine gute Idee!« Elsie hakte sich bei Gustav unter, erinnerte sich rechtzeitig daran, dass Lore noch mitten im Raum stand, und wies mit dem Kopf nach oben.
»Fräulein Lore, Sie können ruhig schon zu Bett gehen. Ich komme später nach.«
»Dann gute Nacht!« Lore war froh, wenigstens eine Weile mit sich und ihren Gedanken allein zu sein.
Auf ihre Bitte führte eine Wirtsmagd sie nach oben und öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. Es beherbergte zwar einen eigenen kleinen Kanonenofen, doch das Feuer darin schwelte nur und vermochte den Raum nicht zu erwärmen. »Ich bringe gleich noch ein paar Kohlen«, versprach die Magd und verschwand.
Lore streifte mit müden Bewegungen ihr Kleid ab und stand kurz darauf fröstelnd im Hemd. Rasch goss sie Wasser aus dem Krug in die Waschschüssel, wusch sich Gesicht und Hände und schlüpfte anschließend in eines der beiden Betten, die nebeneinander im Raum standen.
Kurz darauf kehrte die Magd mit einem Blecheimer voller Eierkohlen zurück. »Gleich wird es wärmer«, sagte sie und öffnete die Ofenklappe, um nachzuschütten.
»Danke! Kannst du die Petroleumlampe ein wenig herabdrehen? So ist
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