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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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wirkendes Gesicht, unter dessen Augen sich schwarze Schatten eingenistet hatten. So selbstzufrieden, wie er sie anblickte, brachte er kein Verständnis für ihre Gefühle auf. Stattdessen lag ein Ausdruck des Triumphs in seiner Miene, den sie noch nie bei ihm gesehen hatte.
    Sie schluckte, weil der Frosch in ihrem Hals immer größer wurde, raffte dann die Reisetasche mit dem hässlichen Mantel an sich und rannte hinaus, um ihre Tränen zu verbergen. Der alte Herr würde sich nicht umstimmen lassen, das war ihr nur allzu klar. Wenn sie ihm widersprach oder sich beklagte, weil alles so schnell gehen musste, würde es zu einem schrecklichen Streit kommen, der ihr Gewissen bis ans Ende ihres Lebens belastete.
    Elsie erwartete sie im Vorraum. Mit Tränen in den Augen umarmte sie Lore und zog sie an sich. »Fräulein Lore! Der Herr kannnicht mehr bei Sinnen sein! Warum schickt er uns in eine ferne, böse Welt hinaus, in der wir keine Freunde haben? Wir werden mit dem Schiff untergehen oder an Cholera sterben! Und wenn wir tatsächlich nach Amerika kommen, erwarten uns dort Räuber und Mörder! Ich habe früher Gazetten geschenkt bekommen, wie sie die feinen Leute lesen, und die waren höchstens ein paar Monate alt und voll von Berichten über Schiffbruch, Mord und andere schlimme Dinge. Aber mir bleibt nichts anderes übrig, als mit Ihnen zu gehen, sonst setzt Ihr Großvater mich ohne meinen ausstehenden Lohn vor die Tür und will mir auch kein Zeugnis geben. Und ohne Papiere bekomme ich keine Stellung mehr und muss verhungern oder in einem dieser schrecklichen Häuser arbeiten, über die man nicht sprechen soll.
    Können Sie den Herrn nicht überreden, uns hierzubehalten? Ich verspreche Ihnen, ich werde für zwei arbeiten und Sie niemals im Stich lassen!«
    Lore schüttelte verzweifelt den Kopf. Wieso war ihr Großvater zu der Ansicht gekommen, das Dienstmädchen sei das Reisen gewohnt und würde sie glücklich nach Bremerhaven bringen? Sie kannte Elsie besser. Die Frau war leichtgläubig, unselbständig und nervöser als ein Huhn auf den Eiern. Sie würde auf Elsie achtgeben müssen, sonst fiele diese auf jeden Schwindler herein, der ihr ein paar Komplimente machte. So eine Begleiterin war nicht gerade das, was sie sich für eine solch lange Reise wünschte. Dennoch war sie froh, dass Elsie mitkam, denn allein hätte sie sich nicht getraut, diese Fahrt anzutreten.

V.
     
    Die nächsten Stunden waren für Lore ein einziger Alptraum. Ihr Großvater stritt sich zuerst mit dem Arzt, der ihn vergeblich zu überreden versuchte, die ganze Sache abzublasen und Lore stattdessen in seine Obhut zu geben. Dann putzte er Elsie herunter, die nach seiner Ansicht alles falsch gemacht hatte, was falsch zu machen war. Zwischendurch rief er immer wieder Lore zu sich und erteilte ihr Dutzende von Ermahnungen. Als sie zu fragen wagte, wer sich denn nun um ihn kümmern werde, wenn er weder sie noch Elsie hätte, lachte er und zeigte nach oben. »Der Herrgott! Und zwar bald!«
    Doktor Mütze, der gerade in seiner Arzttasche kramte, fuhr herum. »Das wird eher der Teufel tun, und zwar noch heute Nacht, wenn du nicht sofort aufhörst, dich aufzuregen und den Wein in dich hineinzuschütten!«
    Der alte Herr begann zu lachen, bis ein Hustenanfall seinen Körper schüttelte und sich die roten Flecken auf seinem Gesicht purpurn färbten. »Meinetwegen auch der Teufel«, sagte er, als er wieder Luft bekam. »Aber er soll bitte schön nicht auf sich warten lassen. Ich will den morgigen Tag schon auf der anderen Seite verbringen. Dieses nutzlose Herumliegen ist sowieso schon ein Vorgeschmack auf die Hölle. Schlimmer kann es da unten gar nicht sein. Und komm mir ja nicht auf die Idee, den evangelischen Lumpen zu holen, der den Einzug meines räuberischen Neffen auf Trettin auch noch gesegnet hat!«
    Jetzt begriff Lore, was ihr Großvater meinte. Doch als sie sich von dem Schrecken erholt hatte und ihn bitten wollte, wenigstens bis zuletzt bei ihm bleiben zu dürfen, erklangen draußen Hufschläge und das Rasseln von eisenbereiften Wagenrädern. Ein mit zwei schweren Kaltblütern bespannter und mit Kisten und Kasten hochbeladener Frachtwagen rollte über das grasüberwucherte Kopfsteinpflaster vor dem Haus und blieb vor der Tür stehen.
    Auf dem Bock saßen Gustav, einer der Gehilfen der Firma Wagner, und der Fuhrknecht, der Lore schon öfter mit nach Heiligenbeil genommen hatte. Der junge Kommis sprang herab und trat fröhlich pfeifend ins Haus. Als

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