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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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Arzt verschriebene Stärkungsmittel in ein Glas. Der alte Herr nahm es ihr zwar ab, schüttete den Inhalt jedoch auf den Boden.
    »Nein, Mädchen! Heute trinke ich einen anständigen Schluck Wein, und wenn dieser Knochenflicker es mir hundertmal verbieten will. Es ist sowieso die letzte Flasche, die noch in diesem Haus zu finden war. Die werde ich nicht Ottokar und Malwine hinterlassen, damit sie auf meinen Tod anstoßen können. So, Mädchen, jetzt setz dich hier auf den Stuhl ins Licht, damit ich dich richtig sehen kann. Ich habe dir nämlich einiges zu sagen!«
    Lore gehorchte verwundert und knetete dabei die Bettdecke, die ihr Großvater beiseitegeschoben hatte.
    »Hast du deine Englischübungen gemacht, so wie ich es dir aufgetragen hatte?«, fragte er.
    Als Lore nickte, sprach er mit durchdringender Stimme weiter.»Was würdest du davon halten, wenn ich dich an einen Ort schicke, an dem du richtig Englisch lernen und es auch gebrauchen kannst? Dort kannst du auch nach Herzenslust nähen und sticken, und zwar zu deinem eigenen Nutzen und nicht für die geizige Schneiderin in der Stadt oder gar als Sklavin dieses dahergelaufenen Weibsbilds, das sich Herrin auf Trettin nennt. Sieh mich nicht so erschrocken an! Glaubst du, ich wüsste nicht, was in meinen eigenen vier Wänden vorgeht? Ich habe nur deswegen nichts gesagt, weil es eine gute Schule für deine Zukunft war.
    Aber nun zurück zu deiner Reise. Erinnerst du dich noch, wie du dir als Kind gewünscht hast, bis ans Ende der Welt fahren zu können? Eine solche Reise habe ich für dich arrangiert. Unser guter Doktor Mütze, aber auch Kord und der Fuhrunternehmer Fritz Wagner haben dabei kräftig mitgeholfen. Und nun, Mädchen, wirst du nach Amerika fahren!«
    Lore starrte den alten Herrn verständnislos an. »Wohin soll ich fahren?«
    »Nach Amerika! Genauer gesagt, in die Vereinigten Staaten. Du wirst dorthin auswandern, wie es heutzutage viele tun. In dem Land bist du vor der Bagage vom Gutshof sicher. Aber wir müssen rasch handeln. Bist du nämlich noch hier, wenn mich der Pfaffe auf den Gottesacker bringt, dann steckt diese Hexe Malwine dich als Dienstbolzen in die Gutsküche, und du darfst wie eine gewöhnliche Magd auf einer Matte vor dem Herd schlafen.«
    Der Alte schnaubte kurz, und Lore erinnerte sich an Malwines Auftritt in der Stadt. Um diesem Drachen zu entgehen, war sie bereit, an jeden Ort der Welt zu reisen, an den ihr Großvater sie schicken wollte. Aber musste es gleich Amerika sein?
    Bevor sie jedoch einen Einwand äußern konnte, sprach der alte Herr weiter. »Dieses Gesindel wollte dich ja schon neulich von hier wegholen, weil es sich angeblich nicht gehört, dass eine brave Enkelin für ihren Großvater sorgt. Soll der Teufel Ottokar undsein hochnäsiges Weibsstück holen! Von denen lasse ich meine Enkelin nicht schurigeln.«
    Lore schüttelte entsetzt den Kopf, als sie begriff, dass er es wirklich ernst meinte. »Über den Ozean soll ich fahren? Ganz weg von Deutschland? Nein, Herr Großvater, das kann ich nicht! Hier weiß ich, was ich tun muss, um Geld zu verdienen. In einem fremden Land kenne ich mich nicht aus.«
    Dabei kam ihr noch ein Grund in den Sinn, der gegen eine solche Reise sprach, die doch nur ein Hirngespinst ihres Großvaters sein konnte.
    »So eine Fahrt kostet viel Geld, Herr Großvater. Aber mit den paar Groschen, die noch im Haushalt sind, komme ich nicht einmal bis Danzig. Außerdem müsst Ihr ja auch noch leben. Wer sollte Euch pflegen, wenn ich nicht da bin?« Mit einer verzweifelten Geste wandte Lore sich an den Arzt. »Bitte, Herr Doktor, sagen Sie doch meinem Großvater, dass ich für eine solche Reise noch viel zu jung bin.«
    Doktor Mütze, der bis jetzt wie ein Schatten neben dem Kamin gesessen hatte, rückte seinen Stuhl ins Licht und schüttelte den Kopf. »Das Mädchen hat recht, Nikas. Du kannst keine Fünfzehnjährige allein nach Amerika schicken. Denk nur an die schlechten moralischen und hygienischen Verhältnisse, die auf den Auswandererdecks der Passagierschiffe herrschen. Selbst wenn das Schiff heil drüben ankommt – was nicht immer der Fall ist! –, sterben genug Dritte-Klasse-Passagiere unterwegs durch Unfälle und Krankheit und ebenso viele durch Mord und Totschlag! Wie soll ein Kind wie Lore eine solche Überfahrt lebend überstehen? Und selbst wenn sie wirklich gesund drüben ankommt, wird sie nicht in der Lage sein, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, es sei denn als Arbeiterin in einer

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