Dezembersturm
offensichtlich um Mrs. Penn, die nicht mit den lebenden Mitbringseln ihres Gemahls einverstanden zu sein schien. Lore zitterte vor Kälte, Angst und einer schier unendlichen Erschöpfung. Für ein paar Augenblicke hatte sie gehofft, dem Zugriff Rupperts entzogen zu sein, doch wenn Mrs. Penn Nati und sie nicht aufnahm, dann würde der Mann sie wieder zurücktragen, wahrscheinlich direkt in die Arme des Mörders.
Joe Penn rief der Frau und dem Jungen, die den Korb mit Nati trugen, etwas zu. Die beiden grüßten scheu zu Mrs. Penn hinüber und transportierten ihre Last durch die Wohnküche, die den größten Teil des Erdgeschosses einnahm, und über zwei schmale, steile Treppen bis in den ausgebauten Dachboden. Joe Penn stieg mit Lore hinter ihnen her, als hätte er anstelle einer Person von fast sechzehn Jahren nur ein Kissen auf dem Arm. Sie war erleichtert,als er sie auf ein schmales, intensiv nach Lavendel riechendes Bett legte. Lore nahm gerade noch wahr, wie sich ein blondes Mädchen, das in einem Korbsessel neben dem Bett saß, über sie beugte und etwas sagte. Dann wurde es schwarz um sie.
Als sie wieder zu sich kam, zankten sich dicht neben ihr zwei Frauen leise, aber sehr erbittert, und im Hintergrund wimmerte ein Kind. Mit einem Schlag war Lore hellwach und saß aufrecht im Bett, noch ehe sie ihre verklebten Augen öffnen konnte. Das musste Nati sein, sie rief nach ihr. Lores Kopf schmerzte, und die Welt um sie herum schien zu schwanken. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, sie sei wieder an Bord der vom Sturm durchgeschüttelten
Deutschland
, und schrie unwillkürlich auf. Aber hier gab es nur diese niedrige, nach Lavendel und billigem Lampenöl riechende Dachstube, in der sich eine ältere Frau und ein in einem Korbsessel sitzendes Mädchen um eine Geldbörse stritten wie zwei Hunde um einen Knochen.
Das Mädchen umklammerte mit einer Hand die Sessellehne und hielt mit der anderen das Portemonnaie fest, während die Frau es ihr zu entreißen versuchte. Dann bemerkten sie, dass Lore wach war, und erstarrten. Die ältere Frau, Mrs. Penn, wie Lore sich erinnerte, fasste sich zuerst und überhäufte sie mit einem Wortschwall. Sie hielt auch nicht inne, als Lore abwehrend die Hände hob und sie mit mühsam zusammengesuchten Worten bat, langsamer und deutlicher zu sprechen.
Erst als die junge Frau im Sessel die ältere an der Schürze zurückzog, verstummte diese und sah mit verkniffener Miene zu, wie jene mit zitternden Fingern und rotangelaufenem Gesicht Lore die Geldbörse reichte und sie mit langsam und deutlich gesprochenen Worten um Entschuldigung bat. Jetzt erst erkannte Lore das Portemonnaie mit dem Reisegeld, das Graf Retzmann ihr gegeben hatte, und sah die beiden Frauen fragend an.
»Bitte … Ich verstehe nicht!«, sagte sie.
»Oh, Miss, es ist mir peinlich. Meine Mutter wollte einfach Geld aus Ihrer Börse nehmen, Miss …«
»Ich heiße Lore, Lore Huppach. Ich bin die Kinderfrau der Komtess Retzmann«, antwortete Lore freundlich. »Wenn Sie sofort Geld benötigen, dürfen Sie das ruhig sagen. Wir zahlen natürlich für Essen und Unterkunft!«
Mrs. Penn schien Lore verstanden zu haben, denn ihr Finger zuckte auf sie zu. »Das Kind ist sehr krank, und der Doktor hat ihm teure Medizin und besonders feines Essen verordnet. Wir sind arme Leute! Ich kann keine Standespersonen beherbergen und verköstigen, denn ich kriege meine eigenen Mäuler kaum gestopft. Meine Älteste hier sitzt den ganzen Tag über ihren Näharbeiten und verdirbt sich dabei die Augen, um mir zu helfen, die Familie zu versorgen! Ich weiß nicht, was Joe Penn sich dabei gedacht hat, noch zwei Fresser herzuschleppen, dazu noch zwei Kranke! Ich …«
»Mom!«, fiel ihre Tochter ihr ins Wort. »Hör auf so herumzuzetern. Davon wird das kleine Mädchen nur noch kränker! Du hörst doch, dass die Lady zahlen will. Also sag ihr, wie viel Geld du brauchst.«
Lore nickte zu diesen Worten und wühlte mit angehaltenem Atem in den Geldscheinen. Es waren neue deutsche Mark darunter, alte Taler preußisches Kurant, amerikanische Dollars und auch einige Scheine mit der Aufschrift »Bank von England«. Der alte Graf hatte ihr ein halbes Vermögen zugesteckt. Sie nahm eine der englischen Banknoten und reichte sie Mrs. Penn.
»Würde das fürs Erste genügen?«, fragte sie.
Die Frau starrte auf den Schein, nickte dann und steckte ihn blitzschnell ein. Ihre Tochter sah Lore mit großen Augen an. »Das sind ja zwanzig Pfund! Bei Gott, das
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