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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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hier gehört. Die Betten in den beiden Zimmern unter uns sind mit meinen Eltern und jeweils zwei meiner Geschwister belegt. Ich bin die Einzige, die ein Bett für sich allein hat. Wir werden abwechselnd darin schlafen!«
    Das klang so bestimmt, dass Lore nicht zu widersprechen wagte.
    »Wie viele Geschwister hast du, Mary?«
    »Mit mir sind wir noch zwölf. Drei sind gestorben …«
    Mary genoss es, eine aufmerksame Zuhörerin zu haben. Während ihre Mutter und ihre Geschwister nacheinander mit Arznei, Suppe, Tee, Wolldecken, heißen Ziegelsteinen und kaltem Wasser die Treppe heraufkamen und neugierige Blicke auf das arme, kranke und doch so zauberhaft reiche Komtesschen warfen, erzählte sie Lore die Geschichte ihrer Familie, der Nachbarn und sonstiger Verwandter. Dabei lachte sie kein einziges Mal über Lores Verständigungsprobleme, sondern ging mit unendlicher Geduld auf ihre Fragen ein und sorgte dafür, dass Lore sich sehr schnell in der Familie und in der fremden Sprache heimisch fühlte.

II.
     
    Verschwinde! Lass uns in Ruhe!« Lore wunderte sich selbst, wie flüssig ihr diese Worte auf Englisch über die Lippen kamen. Doch Ruppert lachte sie nur aus und griff trotz des tobenden Sturms nach Nati, um sie aus ihren Armen zu reißen und in die kochende See zu schleudern …
    Ihr eigener Schrei weckte Lore auf, und sie sah sich erschrocken um. Doch da gab es keinen Ruppert und auch keine hohen, wild anbrandenden Wellen. Sie lag in Marys Bett, zitterte vor Kälte und benötigte dringend einen Nachttopf. Durch das kleine Giebelfenster fiel ein erster, schwacher Schein der nahenden Morgenröte, und aus der Küche drangen Geräusche und leise Stimmen nach oben.
    Mary saß in ihrem Korbsessel neben Natis Wiegenbett und umklammerte noch im Schlaf krampfhaft ihre Näharbeit. Lore konnte sich nicht daran erinnern, ins Bett gegangen zu sein. Wahrscheinlich war sie mitten in Marys Erzählungen eingeschlafen. Dann hatte man sie ausgezogen und in ein zeltähnlich großes Nachthemd gesteckt. Am Fußende des Bettes lag noch der mit Tüchern umwickelte Ziegelstein, der als Wärmpfanne gedient hatte, und ihr Segeltuchmantel war als zusätzliche Decke über die dünnen Wolldecken ausgebreitet worden.
    Lore zog sich leise an, um Mary und Nati nicht zu wecken. Doch die Dielen quietschten und knarrten erbärmlich und riefen sofort die restlichen Bewohner des Hauses auf den Plan. Nati warf sich in der Wiege herum und begann zu weinen. In diesem Augenblick krabbelte Marys jüngste Schwester, ein Nackedei in schmutzigen Windeln, auf allen vieren ins Zimmer, gefolgt von einem ungekämmten, zahnlückigen Mädchen, das nach einem neugierigen Blick in die Wiege die Ausreißerin wieder einfing und wie einenMehlsack die Treppe hinunterschleifte. Als Nächste segelte Mrs. Penn herauf und brachte einen Napf mit frischer Brühe, eine Kanne scharf riechenden Tee und eine saubere Bettpfanne, die Nati sofort benutzte.
    Als das Komtesschen halbwegs versorgt war, brachte Prudence, die zweitälteste Tochter der Familie, Lore zu einem winzigen, eiskalten Verschlag hinter dem Haus und zeigte ihr die Toilette. Stolz berichtete sie, dass dieser Abtritt der einzige in der ganzen Straße sei, der direkt am Haus stehe und der Familie ganz allein gehöre. Als Lore fertig war, brachte Prudence sie in die Küche und warf die Brüder hinaus, damit sich der Gast ungestört waschen konnte.
    Lore genoss in Prudence’ Gesellschaft ein kurzes Frühstück und freute sich über ihr harmlos naives, aber doch recht aufschlussreiches Geplauder. Die Freundlichkeit und die Hilfsbereitschaft, mit der die vielköpfige Familie nach Mrs. Penns anfänglicher Ablehnung sie und Nati aufnahm und versorgte, tat ihr wohl, auch wenn sie wusste, dass sie das in erster Linie dem Zwanzigpfundschein zu verdanken hatte. Natis Weinen und Jammern rief sie bald wieder nach oben, wo Mary nun im Bett lag und leise schnarchte.
    Lore versorgte das Kind mit fiebersenkendem Tee und legte ihm ein in Lavendelwasser getauchtes Tuch auf die Stirn. Dabei musste sie Nati immer wieder versichern, dass sie wirklich nicht wegzugehen gedenke. Zuletzt rückte sie die Wiege und den Korbsessel etwas näher an die wärmespendende Wand des gemauerten Kamins, der von der Küche aufstieg und alle Etagen des kleinen Hauses beheizte. Trotzdem musste sie sich noch in eine Wolldecke wickeln, ehe sie es sich mit Marys Näharbeit im Sessel bequem machen konnte, da eine feuchte Kälte durch alle Ritzen kroch.
    Die

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