Dezembersturm
nächsten Stunden wurden kurzweiliger, als sie erwartet hatte. Während sie Nati umsorgte und zwischendurch mit feinen Stichen die Nähte der Bluse schloss, die Mary für die Gattin eines der städtischen Honoratioren bestickt hatte, kamen Marys Mutterund ihre Geschwister abwechselnd mit schaulustigen Nachbarinnen im Schlepptau in die Dachstube. Die, die es sich leisten konnten, brachten kleine Geschenke, die anderen Essen oder wenigstens Neuigkeiten mit. Ein zwei-oder dreijähriges Mädchen, so erzählte eine dicke, stark schwitzende Frau, sei noch lebend von der
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gerettet worden und dann auf der Fahrt nach Harwich in den Armen seiner Mutter gestorben.
Lore erinnerte sich flüchtig an die kleine Pauline und ihre Mutter, die ebenfalls in der Takelage Zuflucht gesucht hatten. In seinen nassen, am Körper klebenden Kleidern hatte das Mädchen beim Abstieg aus der Takelage an Deck der
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schon mehr einer Wachspuppe als einem lebendigen Wesen geglichen. Bei dem Gedanken liefen Lore die Tränen über das Gesicht. So hätte es auch Nati ergehen können, wenn sie das Kind nicht warm und trocken hätte halten können. Doch noch war die Gefahr für die Kleine nicht gebannt. Trotz der Arznei, der Wadenwickel und all der Tees stieg Natis Fieber schon gegen Mittag wieder an, und ihr Atem ging so schwer, als sei sie am Ersticken.
Der eilends herbeigerufene Arzt verordnete eine andere Arznei und eine Schwitzkur in einer Packung von Birkenblättern. Lore hielt mühsam an sich, um nicht böse zu werden. Wo um Gottes willen sollte sie in dieser Winterzeit Birkenblätter herbekommen? Mary beruhigte sie jedoch. Da der Apotheker wusste, was dieser Arzt verordnete, hatte er gleich einen ganzen Schuppen mit getrockneten Birkenblättern gefüllt. Marys älteste Brüder liefen auch sofort los, um einen Sack voll zu kaufen.
Als sie wiederkamen, erzählten sie lachend, dass sie von einem stadtbekannten Herumtreiber angesprochen worden seien, einem Mann, der von Gelegenheitsarbeiten lebte und davon, sich das eine oder andere Ale im Pub mit Neuigkeiten und Gerüchten zu verdienen. Er hatte alles über Lore und Nati wissen wollen, sogar den Ort, an dem sie schliefen. Die Jungen, die den Mann nichtsonderlich mochten, berichteten grinsend, sie hätten ihm von der Kellerwohnung erzählt, die ihr Vater eingerichtet habe, um zahlende Untermieter aufzunehmen, und erklärt, die beiden Mädchen würden dort logieren. Doch in Wahrheit sei die Kellerwohnung unbewohnbar, weil der Bach in der Nähe wegen des Baus der neuen Fischfabrik immer wieder über die Ufer treten und sie so überschwemmen würde, dass sich noch nicht einmal Ratten und Wanzen darin wohl fühlten. Die beiden Jungen hielten das Ganze für einen großen Spaß und planten schon, den Kerl noch mehr an der Nase herumzuführen. Aber Lore war alarmiert.
Dahinter konnte nur Ruppert stecken, und wie es aussah, hatte er sie gefunden.
Erst gegen Abend, als der Strom der neugierigen Besucherinnen abgeebbt war, kam sie dazu, mit Mary über die Gefahr zu sprechen, in der Nati schwebte. Das behinderte Mädchen schien die geheime Lenkerin ihrer Familie zu sein, die den aufbrausenden Vater ebenso im Zaum hielt wie die nervöse und von der großen Familie überforderte Mutter. Nun begann Lore, ihre Geschichte zu erzählen, angefangen von dem Tag, an dem sie das Haus ihres Großvaters verlassen musste, bis zu den Drohungen, die Ruppert auf der
Liverpool
ausgestoßen hatte. Sie verschwieg auch nicht, dass sie die Briefe und Papiere des ermordeten Grafen bei sich hatte, bat Mary aber, niemandem sonst etwas davon zu sagen, auch nicht ihren Eltern.
Mary hörte ihr geduldig zu, während sie sorgfältig mit wachsender Zufriedenheit die Arbeit ihres Gastes an der Bluse prüfte. Als Lore geendet hatte, wiegte sie nachdenklich den Kopf: »Das ist eine böse Geschichte. Dieser Ruppert muss ein ganz schlechter Mensch sein, der noch in der tiefsten Hölle enden wird. Aber wenn alle denken, Count Retzmanns Tod sei ein Unfall gewesen, ist er immer noch ein ehrenwerter Mann und als Herr von Stand so gut wie unangreifbar. Wenn du etwas gegen ihn sagst, werdendich alle für verrückt halten. Niemand glaubt einem armen Mädchen, besonders dann nicht, wenn es mit so einer Geschichte daherkommt. Ich rate dir daher, die Angelegenheit für dich zu behalten. Bleibe bei uns, liebe Laurie, bis der deutsche Herr von der Reederei kommt, um euch abzuholen. Ihm kannst du erzählen, was du weißt, und dann
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