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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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ist mehr, als mein Vater in einem Vierteljahr nach Hause trägt. Das ist viel zu viel!«
    Lore schüttelte lächelnd den Kopf, denn sie wusste aus eigener Erfahrung, wie schlecht Näherinnen bezahlt wurden. Auch hatte sieden Zeitungen zu Hause entnommen, wie wenig ein Arbeiter im Monat verdiente. Natis Pelzmäntelchen hatte sicher mehr als das Doppelte dieser Summe gekostet. Um wie viel mehr durfte sie ausgeben, wenn es um das Wohlbefinden oder gar das Leben der Kleinen ging! Kinder starben so schnell an allen möglichen Krankheiten.
    »Bitte, Mrs. Penn, nehmen Sie das Geld und kaufen Sie die Medikamente für die Komtess und gutes Essen für uns alle – auch für sich und Ihre Kinder! Wenn es nicht reicht, dann gebe ich Ihnen noch weitere zwanzig Pfund. Denken Sie daran, wenn der Vormund der Komtess das Kind heil und gesund vorfindet, wird er Ihnen noch eine Belohnung zahlen – mindestens hundert Pfund! Das verspreche ich Ihnen.«
    Das Gesicht von Mrs. Penn wurde auf einmal sehr viel freundlicher, und die Augen glitzerten. »Also jetzt noch einmal zwanzig Pfund für die Versorgung der Kleinen und hundert Pfund Belohnung?«, fragte sie misstrauisch nach.
    »Noch einmal zwanzig Pfund und weitere hundert, wenn die Komtess Nathalia von Retzmann wieder gesund wird«, bestätigte Lore und kam sich vor wie ein Schacherer auf dem Pferdemarkt. Aber sie wusste nur allzu gut, wie geldgierig blanke Not die Menschen machen konnte.
    Mrs. Penn warf noch einmal einen Blick auf den Geldschein, als traue sie ihm noch nicht ganz, und stopfte ihn mit zufriedenem Lächeln in ihre Schürzentasche. »Und du, Mary, hörst jetzt auf mit dem dummen Nähen und Sticken!«, herrschte sie ihre Tochter an. »Setz dich gefälligst an das Bett der kleinen Lady und mache ihr kalte Wadenwickel. Jonny bringt dir das Wasser frisch vom Brunnen. Währenddessen laufe ich los und hole die Arznei und Kräuter für den fiebersenkenden Tee. Ich bringe auch ein paar Südfrüchte mit, damit die Kleine frischen Saft zu trinken bekommt. Deine Schwester soll inzwischen eine kräftige Brühe zubereiten!Aber wehe, ihr nehmt etwas davon, bevor die Kleine und die Lady hier satt geworden sind!«
    Während sich Mrs. Penns Schritte auf der Treppe verloren, entschuldigte sich Mary wortreich für ihre Mutter.
    Lore winkte ab. »Es ist schon gut. Hauptsache, meine Komtess bleibt am Leben! Sie hat bei dem Unglück ihren nächsten Angehörigen verloren.«
    Sie stand auf, nahm eines der beiden Öllämpchen und ging mit immer noch wackeligen Knien zu Nati hinüber. Das Kind lag in einer übergroßen Wiege, die mit Schnitzereien reich verziert und deren Farbe schon stark abgeblättert war. Natis Gesicht war hochrot und so fleckig wie die gemalten Rosen über ihrem Kopf. Dazu rasselte ihr Atem noch schlimmer als der von Lores Großvater, kurz bevor er sie weggeschickt hatte. Doch die Kleine erkannte sie und versuchte, nach ihr zu greifen.
    Als Lore sich über sie beugte, schlang sie die Arme um ihren Hals und bat sie immer wieder, sie nie und nimmer allein zu lassen. Lore versprach es ihr und versuchte ihr zu erklären, dass sie wenigstens in die Küche gehen müsse, um ihr etwas Leckeres zu kochen. Nati erlaubte es ihr mit dem Anflug eines Lächelns und starrte dann Mary an, die sich ihnen mühsam auf zwei klobigen Krücken näherte. Nun erst bemerkte Lore, dass die Beine des Mädchens genauso dünn waren wie die Stöcke und den Körper nicht zu tragen vermochten.
    »Oh, nein! Liebe Mary, bitte bemühe dich nicht. Ich kann Nati allein versorgen. Entschuldige, ich habe nicht bemerkt …«
    »… dass ich ein Krüppel bin? Nun, ich bin aber nicht nutzlos! Ich nähe, sticke und häkle Spitzen. Damit verdiene ich beinahe genauso viel wie mein Vater!« Das klang so stolz und selbstbewusst, dass sich Lore für ihre mitleidigen Blicke am liebsten entschuldigt hätte.
    Mary nickte ihr aufmunternd zu. »Bitte rücke meinen Sessel nebendie Wiege und stelle den Tisch mit meinem Nähzeug daneben. Ich werde heute Nacht am Bett der kleinen Lady Krankenwache halten. Du schläfst so lange in meinem Bett.«
    »Aber ich kann dir doch nicht das Bett wegnehmen!«, rief Lore entsetzt. »Genauso gut kann ich auf der Couch im Wohnzimmer schlafen oder auf einem Strohsack in der Küche!«
    »Auf den Bänken in der Wohnküche schlafen meine beiden ältesten Brüder, und hinter dem Vorhang steht das Bett meiner beiden jüngsten Schwestern. Da schläft jetzt noch unser Babybruder, dem die große Wiege

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